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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 27.1915/​1916

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Über die Ausbildung des Kunstgewerblers
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https://doi.org/10.11588/diglit.4828#0078

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(Gewichte) möglichst unmittelbar aufgenommen und
übertragen werden müssen, ist hierbei also nicht be-
achtet worden. Gewiß ist in dem vorliegenden Falle
das an den Ketten hängende Gewicht der Lampe so
gering, daß die Tragfähigkeit der S-förmigen Ketten-
glieder vollkommen ausreicht. Trotzdem bleibt der
Eindruck auf das Auge ein ungünstiger, weil die
Glieder unzweckmäßig gebildet sind. Der Ingenieur
würde daher diese Formen als »unkonstruktiv« ab-
lehnen, sein Formgefühl findet sich hierdurch verletzt.
Jedenfalls wirkt die gewöhnliche Gliederkette bei ihrer
Einfachheit schöner als die erwähnte Kettenanordnung,
wenngleich zugegeben werden muß, daß auch bei
jener die Glieder nicht allein auf Zug, sondern auch
in gewissem Maße auf Biegung beansprucht werden.
Eine wirksame Verzierung kann man übrigens der
gewöhnlichen Gliederkette noch dadurch geben, daß
man die einzelnen Glieder mit einem Quersteg ver-
sieht in ähnlicher Weise, wie es bei den schweren
Ankerketten der Schiffe geschieht. Diese Ketten be-
sitzen natürlich den Quersteg nur deshalb, weil hier-
durch ihre Tragfähigkeit um etwa 20 Prozent erhöht
wird. Dieses Beispiel lehrt also, wie durch Einfügen
eines einfachen Steges nicht nur die Sicherheit erhöht,
sondern auch die Form der Kettenglieder verschönt
wird. Ketten dieser Art werden mit entsprechenden
Verzierungen auch tatsächlich an Beleuchtungskörpern
sowie als Schmuckketten verwendet.

Freilich soll die Forderung, daß die Kräfte (Ge-
wichte) tunlichst unmittelbar aufgenommen werden
sollen, nicht verallgemeinert werden. Denn sonst
dürfte es ja beispielsweise nicht erlaubt sein, die Be-
leuchtungskörper an freitragenden Armen oder Kon-
solen aufzuhängen, die doch gerade »auf Biegung
beansprucht« werden. Wenn jedoch einmal Zug-
glieder, z. B. Ketten zum Anhängen von Beleuchtungs-
körpern gewählt werden, dann müssen letztere auch
möglichst unvermittelt getragen werden, da sonst die
besondere Eigenart der Zugglieder nicht zur Geltung
gelangt. Bei Anwendung eines Armes oder Konsols
zum Tragen der Lampen andererseits muß ihr Quer-
schnitt nach der Wand hin zunehmen, da der Trag-
körper nach dieser Richtung in zunehmendem Maße
beansprucht wird. Eine derartige Formgestaltung
empfindet wohl jeder, der nicht einmal eine Ahnung
von den Gesetzen der Statik hat, als richtig. Trotz-
dem kommen auch hiergegen häufig Verstöße vor;
denn nicht selten werden ausladende Arme in der
Nähe ihrer Befestigungsstelle schwächer ausgebildet
als an ihren freien Enden. Der in Abb. 6 dargestellte
Kerzenträger, der zu einem größeren Beleuchtungs-
körper gehört, ist der Beanspruchung entsprechend
ausgeführt, da die Entfernung der das Konsol bilden-
den beiden Bänder nach dem Ringe hin, an dem sie
befestigt sind, allmählich zunimmt, während die Bänder
an dem Kerzenhalter selbst dicht aneinander stoßen.
Der Widerstand des Konsols gegen Durchbiegung ist
nämlich um so größer, je weiter die beiden Bänder
sich voneinander entfernen; daher muß ihr Abstand
am Ringe, wo sie am stärksten beansprucht werden,
auch am größten sein. An denjenigen Stellen, an

welchen die beiden Bänder mit dem Kerzenhalter
vereint sind, haben sie jedoch immer noch eine ge-
wisse, wenn auch geringe Biegungskraft aufzunehmen;
denn nur in der Mittelachse der Kerze ist das Biegungs-
moment gleich Null. Den Gesetzen der Festigkeits-
lehre würde es also besser entsprechen, wenn auch
an diesen Befestigungsstellen die Bänder sich nicht
unmittelbar berührten, sondern in einem gewissen Ab-
stände voneinander an dem Kerzenträger befestigt
wären. Außerdem sind die Bänder durch die Ge-
wichte der Kerzen und Kerzenhalter, sowie durch ihr
eigenes Gewicht in Richtung ihrer Flachseiten be-
lastet, in der ihre Tragfähigkeit, wie wir gesehen haben,
besonders gering ist. Das Material der Konsole ist
also nicht richtig ausgenutzt und das Prinzip des
Tragens nicht genügend zum Ausdruck gebracht.

Mit der vorstehenden Betrachtung sollte darauf
hingewiesen werden, daß die gegenwärtige Ausbildung
gewisser Zweige des Kunstgewerbes nicht ausreicht,
um Gegenstände von höchster Formvollendung zu
schaffen, daß hierzu auch die Aneignung theoretischer
Kenntnisse notwendig ist. Die gewerblichen Erzeug-
nisse jeder Art, mithin auch diejenigen des Kunst-
gewerbes, pflegt man ja jetzt nur dann als schön an-
zuerkennen, wenn sie zweckentsprechend gestaltet sind.
Der Kunstgewerbler muß aber, um wirkliche Zweck-
formen schaffen zu können, nicht allein die Eigen-
schaften der verwendeten Stoffe, sowie ihre Her-
stellung und Bearbeitung beherrschen, sondern auch
beurteilen können, wie das Material anzuordnen und
zu verteilen ist, damit es am besten ausgenutzt wird.
Wenn auch die Erzeugnisse früherer Zeiten beweisen,
daß sachgemäße Konstruktionen auch ohne die ge-
schilderten theoretischen Kenntnisse ausführbar sind,
so wird doch durch ihre Kenntnis jedenfalls die
Sicherheit beim Entwerfen erhöht, und es können
Fehler leichter vermieden werden, wie an Hand der
angeführten Beispiele darzulegen versucht ist. Sind
jedoch praktische Erfahrungen und theoretische Kennt-
nisse vereint mit künstlerischer Begabung, dann werden
Arbeiten von höchster Formenschönheit geschaffen
werden.

Hans Cornelius,

Elementargesetze der bildenden Kunst.

Verlag von B. G. Teubner, Leipzig.

S. 13: »Unsere Umgebung ist in der Regel nicht so
beschaffen, daß das Auge ihr Dasein einheitlich und ohne
Beschwerde aufzufassen vermöchte. Wir erfahren jedocli,
daß wir durch bestimmte Umgestaltung dieser Umgebung
imstande sind, dem Auge jene Beschwerde zu nehmen und
ihm die Auffassung der Erscheinung in ruhigem Schauen
zum mühelosen Genuß umzuschaffen. Diejenige Gestaltung
unserer Umgebung oder einzelner Teile derselben, welche sich
auf das eben genannte Ziel richtet, heißt Gestaltung der-
selben für die Bedürfnisse des Auges. Gestaltung zu künst-
lerischer Wirkung oder künstlerische Gestaltung sind nur
andere Ausdrücke für dieselbe Sache. Die Aufgabe solcher
Gestaltung besteht überall darin, dem Auge dasjenige zu
geben, was ihm an der Erscheinung der Dinge mangelt und
ihm aus dem Wege zu räumen, was ihm an dieser Er-
scheinung störend sein würde.«-



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