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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 27.1915/​1916

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Behne, Adolf: Majorität und Qualität
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https://doi.org/10.11588/diglit.4828#0202

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das wägende Urteil vom Seltenheitswert bestochen. Mit
seltenen Dingen geht man natürlich schonend um. Ein
einzelnes modernes Kunstwerk, sagen wir eine Radierung
von Klinger oder Zorn, ist heute nicht mit dem Anspruch
belastet, eine ganze Epoche charakterisieren, 100 bis 200
Jahre der Kunst repräsentieren zu sollen. Es ist insofern
weniger »charakteristisch« als ein altes Werk. Ein Kupfer-
stich vom »Meister der Spielkarten« ist — in diesem Sinne —
ungleich charakteristischer und damit für den gelehrten
Historiker tatsächlich auch ungleich wertvoller. Da bringt
es der Historiker natürlich nur schwer über das Herz, den
künstlerischen Qualitäten etwa ausdrücklich ein schlechtes
Urteil auszustellen. Dazu kommt noch ein anderer Grund,
der aus der Tugend wissenschaftlicher Vorsicht entspringt.
Je einzelner ein Werk in seiner Epoche steht — was prak-
tisch ja fast stets mit einem höheren Alter gleichbedeutend
ist —, um so weniger Vergleichsmaterial liegt vor. Das
künstlerische Qualitätsurteil schärft sich aber gerade durch
den Vergleich, wenn es auch keineswegs notwendig an
einen solchen gebunden ist.

Kurz: der Historiker ist alten Kunstwerken gegenüber
oft allzu nachsichtig. In den frühen Kapiteln der Kunst-
geschichten erscheinen daher stets eine große Zahl von
Kunstwerken, die mehr charakteristisch, als künstlerisch
wertvoll sind. Irgendwie »charakteristisch« ist ja schließ-
lich alles, und tatsächlich geht der ideale Ehrgeiz des
regelrechten Kunsthistorikers darauf aus, lückenlos z. B.
alle Bauten des italienischen Mittelalters zu beschreiben
und zu analysieren, und seien unter ihnen noch so viele,
die außer ihrem Alter auch nicht die geringste Eignung
besitzen. Ganz gewiß, auch der Maurermeisterstil von
Anno 90 wird noch einmal Gegenstand einer leidenschafts-
losen, ehrenwerten kunstgeschichtlichen Arbeit.

Das sind die Gründe, aus denen das Problem einer
»Kunstgeschichte der wahren Qualitäten« gerade für die
ältere Kunst akut und wichtig ist.

Und weshalb könnte für die moderne Kunst eine Zu-
sammenstellung von Majoritätsurteilen auf starkes Interesse
rechnen? —

In den früheren Jahrhunderten bestand zwischen dem
Publikum und der Kunst eine ganz direkte und durch-
sichtige Beziehung: das Publikum bestellte — und der
Künstler führte aus. An jedem Werke, das entstand, hatten
beide Parteien Anteil; es war eine gemeinsame Basis vor-
handen. Daß das Publikum an den Kunstwerken seiner
Zeit Anteil nahm, war also ganz selbstverständlich; es
hatte ja von Anfang an Einfluß auf sie genommen. Seine
Wünsche, seine Ideale, seine liebsten Vorstellungen waren
notwendig in den Bildern enthalten. Eine Spaltung zwischen
den Ansprüchen, mit denen das Publikum an die Kunst-
werke heranging und den Erfüllungen, die die Künstler
darboten, war kaum möglich, denn die Erfüllung der
Künstler war ja eben die Erfüllung der Ansprüche des
Publikums. In dem Auftrage hatte das Publikum seine
Ansprüche formuliert; daß der Künstler sie erfüllte, war
selbstverständlich. Von einer Spaltung konnte in den älteren
Zeiten um so weniger die Rede sein, als der Auftraggeber,
der sich an einen Künstler wandte, für seine eigene Person
wieder zu einem anderen Gebilde im Verhältnis der Ab-
hängigkeit stand, im ganzen Mittelalter z. B. zum Kirchen-
regiment. Das unterscheidet ihn vom gelegentlichen heu-
tigen Auftraggeber. Der heutige Auftraggeber ist frei. Er
kann bestellen, was er will, und ist einzig und allein seinem
eigenen Geschmacke Rechenschaft schuldig. Der heutige
Auftraggeber darf seinen individuellen Neigungen folgen,
und diese können mit dem Geschmack der Majorität des
Publikums in schreiendem Widerspruch stehen. Nicht so

in den früheren Zeiten. Hier war der Auftraggeber be-
stimmt von den Normen, die die Gesamtheit, die Majorität,
aufstellte oder billigte. Jeder Auftrag also, der erteilt wurde,
hatte schon sozusagen die Zustimmung der Majorität, und
da jedes Kunstwerk die Erfüllung eines solchen Auftrages
war, so war auch von vornherein jedes Kunstwerk sicher,
dem Interesse, dem Verständnis des Publikums in seiner
Majorität zu begegnen. Kunstwerke, die in ihrem Wesent-
lichen isoliert oder fremd dem Publikum gegenübergestan-
den hätten, konnte es nicht geben. Die Frage einer Kunst-
geschichte der Majoritätsvorteile spielt also hier wirklich
eine untergeordnete Rolle, besonders im Mittelalter. Im
Mittelalter waren die meisten Künstler Mönche, und die
Auftraggeber waren zumeist die geistlichen Herren, Äbte,
Bischöfe, Klöster. Dem Maler oder Bildhauer, der einen
der christlichen Gedankenwelt feindlichen Stoff hätte be-
handeln wollen, würden kirchliche Strafen gedroht haben.

In der Renaissance fiel dann zwar die enge Be-
schränkung auf christliche Themen fort, obgleich auch jetzt
unter den großen Künstlern noch viele Mönche waren
(Fra Bartolommeo, Fra Angelico da Fiesole). Aber es blieb
doch dabei, daß der Künstler erst malte oder meißelte,
wenn jemand ein Porträt, ein Andachtsbild, eine mytho-
logische Darstellung bestellt hatte. Nach wie vor be-
stimmte der Auftraggeber nicht nur das Thema und seine
allgemeine Auffassung, sondern selbst die Größe des Bildes,
die Zahl der Figuren, den Charakter und alle Besonder-
heiten der Ausführung und Technik, äußerte er bis ins
Einzelne seine besonderen Wünsche. Das Stoffgebiet für
die Bestellungen und damit gleicherweise für Auftraggeber
wie Maler erweiterte sich, aber daran, daß der Künstler
vom Auftrag abhing, wurde nichts geändert, auch nicht
dadurch, daß diese Auftraggeber nun nicht mehr aus-
schließlich geistliche Würdenträger waren, sondern auch
wohlhabende Bürger, adlige Herren, Stadtmagistrate usw.
Noch immer also war jene Basis vorhanden, auf der
Künstler und Publikum sich begegneten, die ihnen ge-
meinsam war. Der private Auftraggeber steht jetzt aller-
dings nicht mehr so streng unter einem geistigen Regiment.
Er mag in seinen Aufträgen schon hier und da Gedanken-
gängen folgen, die bereits nicht mehr den Gedankengängen
der Majorität entsprechen — im allgemeinen findet auch
in der Blütezeit der Renaissance noch keine Spaltung statt
zwischen den Ansprüchen, mit denen die Majorität an ein
Kunstwerk herantritt, und den Erfüllungen, die der Künstler
darbietet.

Diese Spaltung tritt erst in der Spätzeit der Renaissance
ein. Jene heftigen Szenen, in denen Papst Julius II. und
Michelangelo zusammenstießen, wirken wie ein symboli-
scher Vorgang. Wer wäre auserwählt, einen Auftrag zu
erteilen, der in so wahrhaft klassischer Weise beanspruchen
dürfte, die Ideen der Majorität zum Ausdruck zu bringen,
als der römische Pontifex? Und wer anders hätte es ge-
wagt, dem Auftrag eines Papstes seinen künstlerischen
Eigenwillen entgegenzustemmen, als Michelangelo? Zum
ersten Male in der Kunstgeschichte des Abendlandes ge-
schieht es bei der Ausmalung der Sixtinischen Decke, daß
ein Künstler dem Anspruch des Auftraggebers, seinen
Wunsch zu erfüllen, den Anspruch entgegenstellt, die Ge-
bote seines künstlerischen Genius zu erfüllen. Die Worte,
die Michelangelo den ungeduldig drängenden Fragen des
Papstes, wann endlich er fertig sein würde, entgegensetzte,
dürfen historische Bedeutung beanspruchen: »que ellesarebbe
finita, quando hio harö satisfatto a me nelle cose dell' arte.«

Mit Michelangelo beginnt die moderne Kunst. Der
Künstler befreit sich mehr und mehr vom Auftraggeber,
er ordnet sich nur dem unter, was ihm sein eigenes künst-

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