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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 27.1915/​1916

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Biernatzki, Johannes: Die neuen Schachsteine
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https://doi.org/10.11588/diglit.4828#0246

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etwa Pagoden, daraus ein Minaret entsprang, an diesem
auf halber Höhe Lotosblätter! Im friederizianischen Zeit-
alter mußten es Feldherren- und Soldatentypen sein, mit
13 blanken Knöpfen am Waffenrock usw. usw. Noch
heute trifft man in der deutschen Spielwarenindustrie,
ganz billig und aus leichtem Holz, mit der Maschine
abgedreht, die seltsamsten Geschöpfe an, bei denen
der König aus der Vase, der Turm auf einem Stengel
wächst! In England aber stellte auf Erfordern der
englischen Schachvereine um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts Staunton das vorerwähnte Muster fest,
das dann auch uns zwei Menschenalter hindurch be-
herrscht hat — jene allbekannten Gestalten voll steifer
Würde, der König ohne rechte Krone, mehr einem Lord-
oberrichter gleich, das Haupt von drei, vier Halsbinden
gestützt, hochaufgereckt, daß man ihm heimlich in den
Fuß Blei eingießen muß, damit er besser stehe; die Krone
trägt die Queen — es war das Zeitalter der jugendlichen
Viktoria; die Läufer haben Bischofsmützen, denn dies
verlangte die hochkirchliche, spezifisch englische Auf-
fassung der Figur — für den Franzosen sind es be-
kanntlich Narren (fou); die Türme mit schönen Schieß-
scharten und Mauerkronen, jedoch nur halb so hoch,
wie die verehrte Königin, mehr einem Taburett zum
Sitzen gleich; die Springer aus zwei Stücken zusammen-
gesetzt und daher immer geneigt, sich wieder in zwei
Stücke zu zerlegen. Über das Ganze aber breitet
sich ein großer Segen von Tellerkragen, von Staub
und Schmutz fangenden Kehlen und Rillen und Ein-
schnitten, die nur im Wannenbade rein zu halten sind —
drei volle Viertel aller Figuren sind in dieser Weise
geschmückt. Was ist das eigentlich? Es ist Kostüm.
Staunton war Shakespeareforscher, ihm schwebte nun
einmal die Tracht des Elisabethanischen Zeitalters vor,
und so wurden selbst seine Bauern shakespearesche
Pagen mit Radkragen und Rundkopf. Daß diese
Figuren infolge ihres runden Fußes so herrlich über
Tisch und Brett zu Boden rollen können, sei hier
nur nebenbei erwähnt.

Für ihre Zeit mag diese Form ein Fortschritt
gewesen sein, für uns ist sie Snobismus, ohne Dauer-
kraft und nicht weltfähig, anderen Völkern ein Schlag
ins Angesicht — wir haben keinen Grund, noch
länger ihr zu »huldigen«. Wir hätten uns schon
lange davon lösen sollen. Aber wir sind stets sachlich,
unparteiisch, sanft und anspruchslos. Erst jetzt, da
der Bezug des Fremdländischen stockt, da wir genötigt
sind, uns selber zu versorgen, erwachte unter uns der
Wille zur Reform. Jetzt muß in Deutschland eine
deutsche Schachindustrie erstehen — ist es da denkbar,
daß wir den deutschen Kunsthandwerker, es sei nun
Meister oder Gesell, den wir zu reinem Formensinn
erzogen in unserm mit heißestem Bemühen zu hoher
Blüte geförderten gewerblichen Fortbildungswesen,
begabte Leute oft mit angeborenem ursprünglich klarem
Stilgefühl, auf dies längst abgestorbene und uns ganz
wesensfremde Muster festnageln, daß sie zeitlebens ihm
sollen Sklavendienste tun? Und sollten wir die Jugend
unseres Volks — denn augenblicklich breitet sich das
gute Spiel in allen Siänden aus — die wir zur Kunst
erziehen, vor dieses starre, in sich leblose Muster setzen

und es als etwas Mustergültiges zeitlebens anstarren
lassen? Wir würden damit töten, was wir selbst ins
Leben riefen. Das geht doch wohl nicht an.

Daher begrüßen wir es sehr, daß die Kunstdrechs-
lerei des Herrn Johannes Hirsch in Hamburg, eine
alteingesessene bewährte Firma, den Mut gefunden hat,
zugleich mit der Versorgung des deutschen Markts
mit brauchbarem Spielmaterial eine Reform der Figuren-
gestaltung tatkräftig in die Hand zu nehmen. Und
zwar eine durchgreifende, denn an dem fremden alten
Muster dies und das zu bessern, hätte nichts genützt —
es war ja grundsätzlich verkehrt. Erstaunlich ist, wie
wenig man bisher über diese Dinge nachgedacht.
Wir legen das Ergebnis dieser Bestrebung im Bilde
vor und fordern, da es unsere Sache ist, die Schach-
freunde kunstgewerblich zu beraten, unsere Vereine
und Schulen auf, und wer sonst als Förderer des
Kunstgewerbes sich zu betätigen wünscht, die sehr
geringe Ausgabe nicht zu scheuen (5 Mark nur, mit dem
praktischen Kasten 7 Mark), sich eines dieser Reform-
schachspiele kommen zu lassen und es auf alle Weise
bekannt zu machen. Der Augenschein wird von der
Brauchbarkeit am besten überzeugen. Die Schach-
vereine aber sind zu ersuchen, es probeweise mitein-
zustellen in ihren Betrieb, mit gleichen Rechten wie
das alte Spiel. Sich durchzusetzen, mag man dann
ihm selber überlassen.

An dieser Stelle bedarf das Neue nur noch der
Erläuterung. Warum, so fragt man, müssen es über-
haupt Figuren, ausgesprochene Gestalten sein? Ist es
ein Puppenspiel? Schachsteine, wie man in der
Schweiz noch heute sagt, dürften das bessere sein.
Es handelt sich bei diesem Spiel um nichts, als um
Bewegung in der Fläche — wie man es deuten will,
ist Nebensache.

Und weil es Flächenspiel ist, sind die Steine gleich
hoch zu machen. Nur so gewinnt das Auge einen
klaren Überblick. Und die Erkennungszeichen sind,
da sie von obenher gesehen werden sollen, in der
oberen Fläche anzuordnen. Und selbstverständlich
empfiehlt es sich, der Kennzeichnung ein klares Raum-
schema (Kreis, eingeschriebenes gleichseitiges Viereck,
gleichseitiges Dreieck) zugrunde zu legen. Nur den
König als Mittelpunkt des Spiels mag man besonders
betonen. Und für das Rössel mit seinem anomalen
Sprung mag eine Ausnahme zulässig sein.

Die Steine sollen ferner ohne künstliche Nachhilfe
standfest sein, ihr Höhenmaß darf also die Fußbreite
nicht wesentlich überschreiten. Sie sollen weder um-
fallen noch rollen können, der Fuß sei vierkantig, nicht
rund, der vierkantige Fuß schließt sich zudem dem
Brette an. Die auf ihm sich ausbreitenden Steine
wahren weit besser den Zusammenhang, erscheinen
als ein einheitliches Netz.

Sie sollen ferner aus einem Stücke sein, die Springer
auch. Sie sollen glatt und einfach sein, ohne Falten
und Rillen, in denen sich nur Staub und Schmutz
ansetzt. Die Form sei ganz dem Stoffe angemessen
und der Art der Herstellung, eng dem Gebrauche
angepaßt, zweckmäßig, stilgerecht; sie wird dann ganz
von selber nicht ohne das ihr zukommende Maß von

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