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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 13./​14.1931/​32

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Septemberheft
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Hübner, Paul Hermann: Die "@Zinnpest"
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https://doi.org/10.11588/diglit.26237#0015

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Die „Zinnpest“

Yon

Paul H. Hübner-Freiburg i. Br.

Restaurator und Konservator der Städt. Sammlungen in Freiburg i. Br.

Herr P. H. Hübner hat im Dezember 1930 den Aufsatz
„Die Heilung von Papier-Krankheiten“ für den „Kunst-
wanderer“ geschrieben. Auch den nachfolgenden Artikel
übergab er dem „Kunstwanderer“ zur Yeröffentlichung.

Der Konservator eines Mnsenms muß nicht nur als
Chirurg vorgehen, sondern er muß auch sterbende
l'eile wieder zu neuem Leben erwecken. Er sieht seine
schutzbefohlenen Kunstwerke als förmliche Lebe-
wesen an, die altern, die gewissen Krankheiten unter-
worfen sind, die sich aber aucli wieder verjiingen
lassen.

Aber einer Museumskrankheit stand er bisher ganz
machtlos gegenüber: der „Zinnpesß'. Sie besteht darin,
daß sie an alten und neuen Zinngegenständen auftritt

Abb. 1. Zinnreliquie mit sogenannter „Zinnpest“.

und das feste weiß.e Zinnmetall in ein lockeres graues
Pulver verwandelt.

Schon die Alten wußten, daß Zinn bei großer Kälte
eine Strukturveränderung erfährt. Dariiber berichtet
Plutarch in den Tischreden (VI, 8), und Aristoteles
bemühte sicli um eine physikalische Deutung.

Die Oberfläche der Zinngegenstände bedeckt sich
scheinbar ohne äußere Ursache mit warzenförmigen
Auftreibungen, die sich leicht zu feinem sandigem
Pulver zerstäuben lassen. Diese Strukturveränderung,
die unter der Bezeichnung „Zinnpest'' allgemein be-
kannt ist, beginnt an einzelnen Punkten und ver-
breitet sich kreisförmig nach allen Richtungen hin.
Bei fortschreitendem Yerfall besteht der Gegenstand
nur noch aus teilweise zusammenhängenden Stücken
von allen Dimensionen von faseriger und krystalli-
nischer Beschaffenheit, bis allmählich der Gegenstand
vollständig zu grauem Pulver zerfällt.

Während man friiher die Ursache dieser Struktur-
veränderung in der Verunreinigung des Metalls zu
finden glaubtc, konnte in neuerer Zeit mit Ililfe physi-
kalisch-chemischen Methoden nachgewiesen werden,
daß das Auftreten der „Zinnpest“ auf die Umwand-
lung des weißen metallischen Zinnes in das allotrope
graue beruht. Als Allotropie bezeichnet der Chemiker
die Eigentümlichkeit eines Elements, in mehreren im
physikalischen und chemischen Verhalten mehr oder
weniger voneinander abweichenden Formen aufzu-
treten, wie sie uns zum Beispiel beim Kohlenstoff als
Ruß, Graphit und Diamant bekannt sind. Das Zinn
bildet zwei solch allotrope Formen: weißes Zinn, das
Zinn unserer Zinngegenstände, und graues Zinn, ein
sandiges Pulver.

Verfasser hat mehrjährige exakte Beobachtungen
und Versuche an älteren und neueren gegossenen
Zinngegenständen durchgefrihrt, um die Ursache und
den Zeitpunkt des Auftretens der Strukturverände-
rung: der „Zinnpest“, zu ermitteln. Er fand, daß bei
Temperaturen über + 18° C die Strnkturverändernng
nie stattfindet. Das ist dieselbe Temperatur, die auch
Prof. Cohen ermittelt hat. Bei diesen oder höheren
l emperaturen wird graues Zinn wieder in weißes ver-
wandelt, jedocli in Eorm eines oberflächlich durch den
Luftsauerstoff oxydierten Pulvers. Eine Wiederher-
stellung der Zerstörung ist nicht möglich, denn der
feste Zusammenhang des Materials ist vollständig ver-
lorengegangen. Nnr durch Erhitzen bis zum Sclunel-
zen kann es in die weiße Varietät zurückgef iihrt wer-
den. Eür die Wiederherstellung der Zinngegenstände
ist dieses Verfahren jedoch nicht anwendbar, da hier-
durch die völlige Zerstörung der Eorm eintritt. Bei
+ 18° C liegt der sogenannte „Umwandlungspunkt“.
Unterhalb + 18° C hat also das weiße Zinn das Be-
streben, in graues Zinn iiberzngehen. Es befindet sich
im metastabilen Zustande. In diesem Zustande befin-
den sich daher in unserem Klima alle Zinngegen-
stände, wenn von den wenigen heißen Sommertagen
und von der Aufbwahrung in stark geheizten Räumen
abgesehen wird.

Daß trotzdem die Zinngegenstände nicht znsehendst
zerfallen, verdanken wir nur der Langsamkeit, mit
der diese Strukturveränderung sicli vollzieht. Längere
Einwirkung von Temperaturen, die unter dem Ge-
frierpunkt liegen, bewirken allerdings raschen Zerfall
des Zinns. Bei tiefen Temperaturen, etwa —75° bis
— 80° C, ist er weniger sehnell als bei etwas höheren.
Bei —45° C liegt das Maximum der Strukturverände-
rung. Schon in den Anfangsstadien gehen alle Fein-
beiten der Oberfläche, die Gravierungen, Prägungen,
Inschriften zugrunde, und zuletzt hinterbleibt weiter

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