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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 13./​14.1931/​32

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Februarheft
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Swarzenski, Hanns: Die große französische Ausstellung in London
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https://doi.org/10.11588/diglit.26237#0168

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Die große französisdie Ausstellung in London

Yon

H. Swarzenski-Berlin

Würdig schließt sich die gegenwörtige Ausstellung.
die die gesamte französische Kunst vom 9. Jahrhun-
dert bis zur Moderne mit Ausschluß der noch Leben-
den umfaßt, den letzten großen Veranstaltungen der
Royal Academy im Burlington House an. Man kann
sogar sagen, daß sie in bezug auf Konzentration und
Synthese des eigentlich Kiinstlerischen die früheren
übertrifft, in denen die Sensation, das Zufällige und
Quantitative oder das Kunsthistorizistische der Aus-
wahl den Eindruck mitbestimmte. — Allerdings mit
einer Ausnahme, dem 19. Jahrhundert. Es ninnnt fast
die Hälfte der ganzen Ausstellung ein, aber der Stoff
ist nicht gegliedert. Es iiberwiegt zu sehr die Fiille
der Bilder, die Auswahl ist nicht zwingend, die Quali-
tät ungleichmäßig. Natürlich einzelne Degas, der
Jüngling mit dem Totenkopf von Cezanne, Le Port de
Gravelines von Seurat, Gauguins tahitische Jungfrau
Maria, um nur einiges herauszugreifen, ferner die
Bilder der Sammlung Courtauld, und vor allem die
eine Wand mit dem Daumier der Neuen Pinakothek,
der Loge Renoirs und Manets unvergleichlichen „Chez
le Pere Lathuille“ wird man nicht leicht vergessen
können. Daß man keinen Henry Rosseau sieht, mag
fendenz der Ausstellungsleitung sein; daß aber
Renoir, Degas, Manet, von der Barbizon Scliule ganz
zu schweigen, nicht mit iliren wesentlichsten Bildern
vertreten sind, ist unverständlich und besonders fatal,
da in allen übrigen Sälen der Leitgedanke der Aus-
stellung bewunderungswürdig klar durchgeführt ist:
die Einheitlichkeit der französischen Kunst, die ihr
innewohnende Klassizität, worunter hier aber niclit
nur das heute schon fast zur Phrase gewordene
römische Erbteil, sondern vor allem das Iiolie künst-
lerische Niveau zu verstehen ist.

In dem geistvoll iiberlegenen Yorwort zum Katalog,
das von diesen Dingen handelt, sagt Monsieur Paul
Leon: „II n’est pas de peinture en France qui ne soit
intelligence.“ — Diese Intelligenz und den künstleri-
schen Takt empfindet man gleichermaßen in dem gan-
zen System der Auswahl und der Aufstellung der ein-
zelnen Kunstwerke. Auf' VoIIständigkeit ist bewußt
verzichtet worden. Malerei, Plastik, Kunstgewerbe
sind niclit nach Gattungen getrennt aufgestellt, son-
dern nach dem Grad ilirer kiinstlerischen und histori-
schen Zusammengehörigkeit. Nur die Zeichnungen
sind aus diesem Zusammenhang herausgelöst und
haben ihren eigenen Platz erhalten. Es ist mit über
400 Blättern eine nahezu vollkommene Auswahl der
gesamten französischen Zeichnung erreicht, von den
anonymen Meistern des 15. Jahrhunderts über Fou-
quet, Bellange, Poussin, Claude, Watteau, Gabriel de
St. Aubin, Ingres bis zu Degas und Cezanne. Der hier
gebotene Eindruck steigert sicli noch, wenn man die

Parallel-Ausstellung des Britischen Museums mit
ihrem Höhepunkt, den auf einer Wand vereinigten 14
Watteaus und den 17 Claudes besucht! — Die große,
so weltberühmte und beim großen Publikum beliebte
Dekorationskunst des 18. Jahrhunderts blieb hingegen
— eine mutige 'Pat der Ausstellungsleitung — mit vor-
nehmster Zurückhaltung auf nur einen und nicht ein-
mal den Hauptraum beschränkt: An jeder Wand eine
große Gobelins- oder Beauvais-Tapisserie; davor einige
wenige sehr berühmte Meubles mit köstlichen mon-
tierten Seladon Ch’iqn Lung- oder „bleu de roy“ Se-
vres-Yasen. Den Höhepunkt bildet der polygonale, inr
Mittelpunkt der Ausstellung liegende Saal; er ver-
einigt — eine Art Tribuna — die bedeutendsten
Schöpfungen des französischen Mittelalters: In der
Mitte ist das goldne, in seiner starren Lebendigkeit
fast heidnisch anmutende Kultbild der thronenden
Heiligen Fides aus dem Domschatz von Conques auf-
gestellt. Die Türen des Saals sind Hankiert von Sta-
tuen, die stolze Höhepunkte nicht nur der französi-
schen, sondern der ganzen abendländischen Skulptur
bilden: Am Anfang das Königspaar aus Corbeil, dann
einer der Apostel der St. Chapelle, zwei der Musiker
vom ehemaligen Maison des musiciens in Reims und
schließlich, den neuen Realismus einleitend, die Sta-
tuen von Charles V. und der Jeanne de Bourbon. Da-
zwischen je eine Yitrine mit den ausgesuchtesten
Werken der Goldschmiedekunst und des Emails, meist
10. bis 12. Jahrhundert, aus den Kirchenschätzen von
Conques, Nancy, Reirns, Amiens, St. Denis u. a. Auch
sieht man hier Sluters Pleurant aus dem Cluny und
die beiden schönsten gotischen Elfenbeinschnitzereien,
die Kreuzabnahme des Louvre und die Madonna aus
Yilleneuve-les-Avignon. Yon den Wänden hängen
Iierab die unvergleichlichen Tapisserien aus Angers
mit Darstellungen aus der Apokalypse. — Die Buch-
malerei vor 1200 ist wohl in Erwägung der umfassen-
den Ausstellung im British Museuni etwas sparsam
vertreten: Das karolingische Evangeliar von St. Aure,
der Psalter von St. Bertin, die Apokalypse von
St. Sever und drei der berühmten Citeaux Ilandschrif-
ten aus Dijon sind fast die einzigen, allerdings auch
niclit die schleehtesten Repräsentanten der ersten vier
Jahrhunderte französischer Malerei. Überraschend
war eine große, hochbedeutende Zeichnung (Orpheus
und die neun Musen; Anfang 13. Jahrhundert) aus
Reims, die den noch so problematischen Zusammen-
hang der frühgotischen Skulptur mit der Antike sehr
zu klären vermag. Dann waren —- greifbare Mani-
festationen der damals beginnenden Internationalität
der französischen Kunst — der Psalter der Blanche
de Castille, das berühmte Skizzenbuch des Yillard de
llonnecourt und ein Blatt der großen Pariser Bible
 
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