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Kurpfälzer Jahrbuch: ein Volksbuch über heimatliche Geschichtsforschung, das künstlerische, geistige und wirtschaftliche Leben des Gebietes der einstigen Kurpfalz — 4.1928

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Palatinus, Wilhelm: Der Storche-Waddel: ein Lebensbild aus der Pfalz
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https://doi.org/10.11588/diglit.29785#0083

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mal aus dem Gsometriehest em Blatt entfiel, auf dem er den pytha-
goreischen Lehrsatz für seine lyrisch-erotischen Zwecke mißbraucht hatts:
Das Dreieck in der Mitte e-nthielt ein flaminenöes Herz, die drei an-
hängenden Quadrate je einen Mädchennamen mit halb ernst, halb
ironisch gefärbten iLerschen: eines davon ist mir noch in Erinnerung:
„Holdes Wesen, Emerenz,

Du blütenreicher Iugendlenz,

Du meines Lebens Quintessenz,

2ch liebe dich mit Vehemenz."

Der Kameradenschaar Liente solches natürlich zur schnöden Erlusti-
gung, und Waddel wurde daraufhin noch sche-uer, blieb ab-er stets d-er
treue Kamerad und Sündenbock für allie. An unseren Heimlichen Vier-
abenden nahm er nie teil; er las mit glühendem Eifer alle Blätter für
Abstinenz und Vege-tarismus, die er auftreiben konnte, und bombardierte
uns z-eitweise sogar mit dringendsten Vekehrungsversuchen. — leider ohne
Erfolg.

Waddel kam uns ganz aus den Aug-en, als plötzlich seine Mutter ihr
mühseliges Dasein segnete; er hatte ihr stets ungewöhnlich-e Zärtlichkeit
gewidmet und mi-t allen nur d-enkbaren häuslich-en Dienstleistungen unter
die Arme gegriffen. Vun mußte er das Gymnasium vorzeitig aufgeben
und,um dem Waisenhaus zu entgehen.bei einem auswärtigenG-eschwister-
kinds-Detter als Apothekergehilsle, Pillendreher und Ausläufer dtnter-
schlups sinden. Jahrelang hörte i-ch dann nichts mehr von ihm und hatte
ihn im Drang meiner eigenen Erlebnisse — Aniv-ersität, EinjährigeS,
Zustizpraxis, Krieg usw. so ziemlich vergessen.

Eines schönen Dag-es führt mich der Dienst aus Speier erstmals nach
der etwas abgelegenen Land- und Fabrikstadt P. Ich bummle nach er-
ledigtem Sagesgeschäft etwas vor den Loren und gehe auf dem Heim-
weg ein-e Weile hinter einem einfach gekleib-eten Ehepaar her: fie ein
Hünenweib, resolut, aber nicht unsympathisch dareinsehend, mit zwei
ungebärdigen Vangen an der Hand; er war ein ziemlich schmächtiges
Männchen, in etwas resignierter Haltung einen Kinderwagen schiebend, in
welchem ein Zwillingspaar an seinen' „Schlozern" saugte. Wasserblaue
Augen und „krumme Haare" weckten unbestimmte Erinnerungen in mir;
plötzlich fiel mein Vlick auf die ungesch-ickten, stets mit den Wagenräd-ern
in Konflikt geratenden Füße des Mannes — richtig: d-ie „Kiesnachen" —
und ein schärferer Hinblick entdeckte sofort auch die Vase und das seelsn-
gute Gesicht — kurz, es war mein lieber alter Storche-Waddel, und so rief
ich ihn auch ohne weiteres an. Er stutzte eine Sekunde. dann flogs wie ein
Dlitz über sein Gesicht, und er siel mir mit etwas unmoderner Rührung
um d-en Hals, wobei er mir d-en Zylind-er herunter- und die Vrille schies-
drückte. Während die zwei Vangen mit Triumphgeheul meine verbsulte
Angströhre aus dem Straßengraben sischten, stellte mich der Unglücks-
rabe seiner Ehehälste vor, d-ie mich nach einer kurzen Musterung in Gna-
den annahm, d. h. meine Schreibershand energisch verknackte und mich
zum Mitgehen ermutigte. Vun, wir gingen und plauderten eine Weile
über alte und jetzige Zeiten, über Kriegs-, Friedens- und Valutaelend
und über die leidigen Lebensmittelpreise, — alles, was auf dem deut-

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