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GOTISCHER STIL

(um 1200 bis um 1500)

DAS KENNZEICHEN des gotischen Stiles ist der Spißbogen
im Gegensätze zum Rundbogen des romanischen Stiles. Er
hieße deshalb richtiger der Spitzbogenstil. Die Spitze des
Bogens ist im Anfang eine stumpfe, dem Rundbogen nahestehend. Allmählich
wird mit zunehmender Höhe des Fensters der Bogenabschluß immer spitzer.
Erscheint er geschweift, so heißt er der Ähnlichkeit entsprechend Eselsrücken;
ist er oben zusammengedrückt, wie er in der Spätzeit in England auftritt, so
heißt er nach dem herrschenden Königsgeschlecht Tudorbogen.
DER NAME „Gotik“ ist nur ein Schimpfwort, von den italienischen Bahn-
brechern der Renaissance verächtlichen Sinnes in der irrigen Annahme ge-
braucht, er sei eine Erfindung der ihnen für barbarisch geltenden Germanen
oder Goten.
HERKUNFT. In Wirklichkeit stammt der Spitzbogen indessen aus dem Orient.
Er hatte in Persien Verwendung gefunden und war von der mohammedanischen
Baukunst aufgenommen worden. Erst im Gefolge der Kreuzzüge, die den
abendländischen Rittern die Kultur des Morgenlandes offenbarte, tritt er auch
in Europa auf. Zuerst in Frankreich, das an jenen Kämpfen körperlicher und
geistiger Art den lebhaftesten Anteil genommen hat.
WESEN. In St. Denis bei Paris wurde 1144 der fünfschiffige Chor der Abtei-
kirche durch Suger, der gerade hundert Jahre nach dem Tode des Bischofs
Bernward, des kunstfertigen Pflegers romanischer Kunst in Hildesheim, zum
Abt von St. Denis gewählt worden war (1122), zum ersten Male der Spitz-
bogen konstruktiv verwertet. Bisher hatte man die Kapellen dem Chor eines
Landhauses rein äußerlich angebaut. Jetzt wurde erstrebt, sie miteinander in
organische Verbindung zu bringen, ihre Wölbungen zu sichern und die bisher
infolge der dicken Mauern meist engen und düstern Innenräume luftiger und
lichter zu gestalten. Hierzu dient der Spißbogen und der Strebepfeiler: das
im Spitzbogen aufgeführte Kreuzgewölbe erfordert nicht mehr jene
starken Mauern, denn es lastet durch seine Rippen auf den Pfeilern des
Mittelschiffes und erlaubt auch die Außenmauern in Pfeiler zu zerlegen,
zwischen welchen nunmehr zahlreiche hohe Fenster dem Sonnenlichte Einlaß
gewähren. Um aber auch die Mittelpfeiler von dem Gewölbedruck zu ent-
lasten, hat man ihn durch bogenförmige Ansäße abgeleitet (Strebebogen),
die von der Mittelmauer durch die Luft ragend gegen die niedrigeren Außen-
mauern gespannt wurden. Um dieser vermehrten Belastung der Außenmauern
zuliebe diese nicht gleichmäßig stark durchführen zu müssen, genügte es, sie
bloß an jenen Stellen durch senkrechte Mauerteile (Strebepfeiler) zu ver-
stärken, wo ein Strebebogen aufsißt. So wird die Konstruktion aus dem un-
sichtbaren Mauerkern an seine Oberfläche verlegt; aus den konstruktiven
Formen werden dadurch — im Gegensaß zur späteren Renaissance — zugleich
Zierformen. Die genau berechnete Trennung der tragenden von den getragenen
Bauteilen gibt einem gotischen Gebäude den Ausdruck klarster Geseßmäßig-
keit und schränkt die Phantasie ein. Aus dem bisher raumumschließenden
Mauerwerk wird auf dem Höhepunkt der Gotik (Mitte des 13. Jahrhunderts)
ein durchsichtiges Gerüst, dessen größter Ehrgeiz in der Bewältigung stoff-
licher Widerstände besteht.

KIRCHLICHE
BAUKUNST
 
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