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Deutscher Altphilologenverband [Editor]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 38.1995

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Nr. 2
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Aktuelle Themen
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Krefeld, Heinrich: Ziele und Wege zur Überwindung der Orientierungskrise unserer Gesellschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.33096#0059

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Das gilt auch für die Auseinandersetzung mit der Gewalt. Die Zunahme von
Gewaltexzessen ist, wie Peter Schneider in dem erwähnten Plädoyer nachgewiesen hat, ebenfalls
durch die Medien begünstigt worden, aber auch dadurch, daß man sie gar nicht mehr für möglich
gehalten habe, weil man doch in den letzten Jahrzehnten auf den grundguten Kern im Menschen
gesetzt und sich mit Gewalt gar nicht mehr auseinandergesetzt habe. Dies sei bei uns wohl auch
darauf zurückzuführen, „daß die Deutschen nach dem Exzeß ,des Bösen' sich und der Welt verges-
sen machen wollten, daß es das Böse gibt und daß es jederzeit unter dem dünnen Firnis der Zivili-
sation hervorbrechen kann."
Hiermit rückt nun die Frage nach dem in unserer Gesellschaft vorherrschenden Menschen-
bild in das Blickfeld unserer Betrachtung. Die Folgerung, die Peter Schneider aus dem Scheitern
der utopischen Zielsetzung der emanzipatorischen Pädagogik gezogen hat, ist nicht jedermanns
Sache. Ganz abgesehen davon, daß es Unverbesserliche gibt, die das Scheitern einer an sich groß-
artigen Idee nur menschlicher Unvollkommenheit zuschreiben, finden viele im privatisierenden
Auskosten der Freiheitsräume, die ihnen unsere Gesellschaft bietet, Befriedigung, füllen andere die
Vakuen, die das Scheitern der Utopie in ihren Köpfen hinterlassen hat, entweder durch Hinwen-
dung zu vielfach besorgniserregenden Aktivitäten und Zirkelbildungen oder aber auch durch das
Ausprägen eines mehr oder weniger stark technokratisch ausgerichteten Macherbewußtseins aus,
das durch die Entwicklung neuer Technologien auf vielen Gebieten begünstigt wird. Das Bild ist
also ziemlich diffus.
Schließlich ist nicht außer acht zu lassen, daß es Skeptiker, insbesondere unter Soziologen, gibt, die
einen tragfähigen Grundkonsens in unserer pluralistischen Gesellschaft über
verbindliche Wertvorstellungen nicht mehr für möglich halten, oder die gar der Ansicht sind. Ver-
suche, zu einem solchen Konsens zu gelangen, führten heute zu einer Rückkehr oder gar zu einem
Rückfall in die ,Vormoderne', was man auch immer hierunter verstehen mag.
Würde sich die Pädagogik diese Argumente zu eigen machen, dann gäbe sie sich nicht nur selbst
auf, sondern dann bliebe sie der heranwachsenden Generation auch vieles schuldig. Denn für sie ist
es nach wie vor selbstverständlich, wie auch die jüngsten repräsentativen Untersuchungen - ich
verweise nur auf die der Deutschen Shell .Jugend 92' - aufzeigen, ihre Lebensorientierungen mit
bestimmten Wertvorstellungen zu begründen und zu verknüpfen. In ihnen hat man darüber hinaus
nicht nur eine weitgehende Übereinstimmmung über wichtige und unwichtige Werte bei den Ju-
gendlichen in den alten und neuen Bundesländern festgestellt, wobei man allerdings den Bereich
der Religion ausklammern muß, sondern auch eine bemerkenswerte Konstanz in der Wertehierar-
chie. Die Grundorientierungen und handlungsleitenden Motivationen der Heranwachsenden sind
durchweg auf eine weithin intakte Lebenswelt ausgerichtet, die ihnen in Frieden, Freiheit des Den-
kens und familiärer Sicherheit gute Möglichkeiten zur Entfaltung bietet.
Das ist nun fraglos eine gute Ausgangslage für die Bildungsarbeit in der Schule. Andererseits gilt
aber auch dies: Wenn Elternhaus und Schule es hierbei an Hilfe fehlen lassen, aus welchen Gründen
auch immer, und die Medien gar zur Destruktion geordneter Lebensverhältnisse beitragen, dann
sind Erziehungsnotstand, Desorientierung und Enttäuschung unausbleiblich. Also muß sich die
Schule dieser Aufgabe, dieser Sisyphusarbeit stellen. Wo kann sie hierbei ansetzen?
Die erwähnten Richtlinien betrachten die Grundwerte der Landesverfassung als
allgemeine Leitlinien für die Erziehungs- und Bildungsarbeit. Nichts scheint selbstverständlicher als
dies zu sein. Gleichwohl ist die Frage berechtigt, ob man heute die Trias „Ehrfurcht vor Gott, Ach-
tung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln" noch so freimütig wie
im Jahre 1950 als „vornehmstes Ziel der Erziehung" nennen würde. Fraglos ist dieses Ziel verfas-
sungskonform, ebenso jedoch auch eine atheistische Grundüberzeugung, denn das Grundgesetz

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