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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 38.1995

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Strunz, Franz: Reisen mit Seneca, Horaz und Benn
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https://doi.org/10.11588/diglit.33096#0066

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zähmten Strebungen (cL/p/'d/fafes) deines Innern, mache dich stark gegen deine Angst vor dem
Unvoraussehbaren (forfuna), und du wirst einen Zugewinn an Freiheit erringen, der dein Leben in
ruhige und gleichmütige, weisere Bahnen lenkt.
Horaz
Anders und doch in vielem ähnlich verfährt Horaz in der Epistula I, 11. Auch er beginnt mit vierfach
wiederholten rhetorischen Fragen an den Widmungsträger der Epistel, Bullatius, den er befragt,
was er von acht aufgezählten Reisezielen, klingenden, berühmten Städte- und Inselnamen (Chios,
Zmyrna, Sardis, Colophon u.a.) halte, ob sie nicht schöner, erstrebenswerter, lebenswerter seien als
das Zuhause im schönen Italien. „Famen", antwortet ein fiktiver Reiselustiger, ,,////'c v/vere ve//em
ob/zfusque meorum, ob//'v/'scer)du.s ef ///fs"
Auch dieser Reisende strebt in die Ferne, weil er dort ein schöneres Leben, ohne die gegenwärtigen
Sorgen zu Hause, vermutet. Auch er ist einer von jenen, die, wie in Sermo I, 1 (Qu/ f/'f, Maecenas)
mit dem, was ist, nicht zufrieden sind und nun in der gedanklich vorweggenommenen Zukunft, nie
jetzt, leben. Carpe d/'em. Sorge doch dafür, weist ihn Horaz an, daß du die Stunde so, wie sie dir
jetzt zugestanden ist, dankbar ergreifst und jetzt lebst. „Grafa sume manu neu du/c/a d/Vfer /n an-
num." Benutze deine Klugheit (raf/'o ef prudenf/'a) zur Beseitigung oder wenigstens Milderung dei-
ner Sorgen. Durch einen Ortswechsel wird das keinesfalls zuwege gebracht. „Cae/um, non an/'mum
mufanf, gu/ frans mare currunf." Und wie schon in der Reiseepistel des Stoikers Seneca die horazi-
sche cae/um-an/'mum-Antithese, Frucht seiner pass/'m wahrnehmbaren, eifrigen Lektüre epikuräi-
scher Autoren, anklang, so auch das „bene v/vere", das Horaz ganz ähnlich dem rastlosen Herum-
reisen entgegenstellt (nav/'bus afque quadr/'g/'s pef/'mus bene v/vere). Auch Horaz resümiert, wie
Seneca, es komme auf die innere Verfassung an, ob man glücklich lebe, nicht auf den Ort, in dem
man lebe, sei es auch ein noch so glanzloses Hinterhugendorf (Q/ubrae). „Quod pef/'s, b/'c esf, esf
U/ubr/'s, an/'mus s/ fe non def/'c/'f aequus." Reisen verhilft nicht zur Eigenentwicklung im Existentiel-
len, der Afarax/'a (an/'mus aequus), die von Schicksal und Zufall (casus) unabhängig macht und da-
durch erst die Chance zu einem erträglichen und tragbaren Leben in Ruhe und Verborgenheit er-
öffnet.

Benrt
Reisen
Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?
Meinen Sie, aus Habana,
weiß und hibiskusrot,
bräche ein ewiges Manna
für Ihre Wüstennot?

Bahnhofsstraßen und Rueen,
Boulevards, Lidos, Laan -
Selbst auf den Fifth Avenuen
fällt Sie die Leere an -
Ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.

Gottfried Benns Gedicht „Reisen" (ca. 1950) sieht auf den ersten Blick inhaltlich Seneca, formal eher
der Horazepistel ähnlich. Auch der römische Dichter beginnt mit der Aufzählung magisch-reizvoll
klingender Städtenamen in Frageform, die jeden gebildeten Römer vor Fernweh elektrisieren muß-
ten. Wie Horaz an die reisenden Müßiggänger dazumal, wendet sich auch Benn, ihn direkt und
provokant anherrschend, an den heutigen Touristen, der im Ausland pausenlos, zur Vertuschung
innerer Leere, dem „ganz Anderen" nachjagt. Benns Anruf ertappt, bohrt, will die Umkehr des
dumpf und gedankenlos Flüchtenden. Das mondäne Flanieren durch die Straßen (Ruen, Laan) der

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