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Meier, Thomas; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Archäologie des mittelalterlichen Königsgrabes im christlichen Europa — Mittelalter-Forschungen, Band 8: Stuttgart, 2002

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https://doi.org/10.11588/diglit.34722#0372

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358

Wege zur historischen Interpretation

klärung282. Warum war der halbverweste Leichnam nicht präsentabel? Wenngleich
etwa an den Berichten des 12. Jahrhunderts über die Bestattungen Williams the Con-
queror (t 1087) und Henrys I (t 1135) manches topisch sein mag, zeigen sie doch, daß
der verwesende, stinkende, in Auflösung begriffene Leichnam ein bekanntes Mo-
ment königlicher Bestattungen gewesen sein muß283. Auch die Annahme allmählich
fortschreitender Asthetisierung in der Bestattungszeremonie hilft hier nicht weiter,
denn noch 1483 wurde der Leichnam Richards III, wenn auch zur Schande, nackt
und mit einem Strick um den Hals vom Schlachtfeld bei Bosworth nach Leicester
geschafft284. Wenn schon kein Leichnam, warum dann nicht ein more teutonico abge-
kochtes Skelett? Oder warum beließ man es nicht beim Sarg mit einem Prunkstoff
darüber, wie er schon im späten 13. Jahrhundert als representatio des toten Königs
verstanden wurde285? Warum schließlich kam man 1422 in Frankreich auf die Idee,
den Brauch der effigy zu übernehmen?
Diese Fragen gelten nicht nur für die effigies, sondern für alle Motive des kö-
niglichen Bestattungsordo: Warum entstanden sie? Warum wurden sie übernom-
men? Warum wurden sie angewandt? Warum überhaupt solch ein ordo? Auf den er-
sten Blick scheinen sie keiner gemeinsamen Gesetzmäßigkeit zu unterliegen: Nur
wenige der Motive waren >natürlicherweise< auf das Königsamt beschränkt, keines
trat regelhaft bei der Bestattung von Königen auf. Vielmehr handelt es sich um ein
demonstratives Repertoire, das je nach Bedarf einzeln oder in Kombination ange-
wandt werden konnte286. So erhielten Heinrich IV, Lothar III. oder Friedrich II. recht
üppige Beigabenausstattungen, bei Philipp von Schwaben oder Heinrich VI. fehlen
sie weitgehend. Für Louis IX und Eleanore of Castile errichtete man Gedenkkreuze
an den Wegen ihrer Trauerkondukte, für andere Herrscher unterblieben sie. Man-
che Königreiche pflegten eine aufwendige Beigabensitte, andere nur kurzfristig und
stark reduziert oder gar nicht. Oft entstanden aufwendige gisants, im deutschen
Reich blieb man lange Zeit bei der bildlosen Tumba. Kurz: Zunächst gewinnt man
den Eindruck regelloser Beliebigkeit, und so stellt sich die Frage: Warum treten um-
fangreiche, warum geringe Zeremonien um das Königsgrab auf28 ? Warum wird die
Sakral-Referenz des Königtums besonders hervorgehoben, warum nachlässig ge-
handhabt?
Allein der Kulturkontakt zwischen verschiedenen Königreichen erklärt hier
gar nichts288. Er mag ein Vorbild bereitstellen, die Übernahme zu einem bestimmten
Zeitpunkt begründet er nicht. Vielmehr sind das »Warum hier?«, »Warum jetzt?«
und »Warum so?« mit Michel Foucault der Kern des Diskurses selbst: Nicht hinter
dem Gesagten liegt der eigentliche, viel reichhaltigere und schon längst existierende
Diskurs, der nun in unzureichende Worte gefaßt wird, sondern die Tatsache, daß et-
was gesagt wird - jetzt, hier und so - ist der Diskurs, er ist das Regelwerk, die hi-
storische Bedingung, nach der etwas tatsächlich gesagt wird289.

282 Ginzburg 1992, 98.
283 William: s.o. S. 4. - Henry I: Lohrmann 1973, 95f.
284 Baldwin 1986, 21; Steane 1993, 66.
285 S.o. S. 352.
286 Vgl. Kossack 1974,13, 21.
287 Cannadine 1987,17f.
288 Ginzburg 1992,102.
289 Foucault 1997, bes. 158f., 187-190; vgl. Visker 1991,139-141.
 
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