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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 9.1910

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Nr. 1
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Klopfer, Paul: Zur Kritik des Kunstgewerbes
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https://doi.org/10.11588/diglit.24106#0014

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Zur Kritik des Kunstgewerbes

ment der Technik, im Schmuck vollendete Ziselier-
arbeit, und zwar nur da, wo für Schmuck überhaupt
Platz ist — in allem grosses Verständnis für die
technischen Bedürfnisse. Im Stuhle dagegen: tech-
nische Befangenheit, U eberziehen desganzen Stückes
mit Schnitzerei, auch wo sie nicht hingehört; und
für die Formen: Flucht in die Schatzkammer der
Architektur. Alles, was aus sich heraus nicht
wirtschaftlich voll erfasst wird, wird auch
ästhetisch schief erfasst, und umgekehrt: Die
Möbel der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts
sind ästhetisch fehlerhaft empfunden worden (man
machte Renaissancemöbel nach), also sind sie auch
technisch im Verhältnis zu ihrer Zeit und Kultur-
umgebung Minderwertig. Dabei ist wiederum interes-
sant, dass der um die „entsprechende“ Schmuckform
verlegene Künstler meist zur Architektur greift,
um von dort etwas zu holen (im Jugendstil griff
man noch weiter vorbei, nämlich ins Naturschöne,
dem man die Linien extrahierte). Dem gegenüber
steht nun das Mobiliar unserer heutigen Tage, die
vor allem den Wert der wirtschaftlich-technischen
Forderung tief erfasst haben. V

V Aber die gotischen Möbel um 14 und 1500 waren

doch stilecht? Gewiss. Sie erfüllten von A bis Z
den Semperschen Anspruch auf das Wesen des
Stiles, sie sind kulturecnt — und dennoch nicht in
Allem ästhetisch anerkennenswert oder gar nach-
ahmenswert. Um stärkere Beispiele, als es die
Möbel zu sein vermögen, heranzuziehen: Wie sehen
denn die Schiffe zur Zeit des grossen Kurfürsten
aus! Stilecht, aber sonst sind’s Architekturstücke
in weitbauchige Boote gesetzt, in gänzlicher Verken-
nung ihres wirtschaftlichen und in blinder Ueber-
schätzung ihres ästhetischen Anrechtes. V

V Deshalb erscheint mir alles Fragen und Suchen
nach dem Stil direkt nutzlos für ein Vorwärts-
kommen oder auch nur Sicherstellen unseres Kultur-
schaffens. Deshalb hat die Aufgabe des „ange-
wandten“ Künstlers, von dem hier allein die Rede
sein kann (womit ästhetische Sonderfragen aus-
geschlossen sind), auch garnichts mit dem Stile
zu tun. Der Stil einer Zeit kann vor allerlei Auf-
gaben gestellt werden immer wird es zunächst
wirtschaftliche Fragen zu lösen gelten, und denen
wird er ohne weiters, d. h. ohne Erfahrung nicht
gerecht werden können. Denn wenn auch das
Resultat von der Zeit selbst nicht als falsch empfun-
den wird (warum auch? da jedes Vorbild fehlt),
so sind doch, die beiden Komponenten Technik
und Aesthetik in ihrem gegenseitigen Werte noch
ganz falsch erfasst, die Resultante infolgedessen
ebenfalls falsch gezogen und wir erleben eben den
Werdegang einer Werkform, wie ihn etwa die Loko-
motive seit 1836 durchgemacht hat. Damals war —
um im Bilde zu bleiben — die ästhetische Kompo-
nente hinreichend gross, um an Pleuelstangen ioni-
sche Kapitäle zu setzen und die Räder als gotische
Rosenfenster auszubilden—und heute! ich denke,
die ästhetische Komponente ist gleich Null, und
die technisch-wirtschaftliche wächst noch immer.
A Dieses frische Wachstum der Technik hat uns
eine Zeit lang im Glauben gehalten, es müsste nun
auch im Kunstgewerbe das Heil von jener Seite
kommen und man sprach vom Sachstil (ein Stil

musste es immer gleich sein!). Indes — kräftige
Geister (an deren erster Stelle ich Wilhelm Kreis
kenne), haben deutlich bewiesen, welchen wunder-
baren Klang es gibt, wenn wirtschaftliche und
ästhetische lendenzen unter künstlerischem Ge-
sichtspunkt erfüllt werden, wenn es scheint, als
ob die angewandte Kunst einmal gar nicht sachlich,
sondern rein schönheitlich betrachtet und gewollt
würde. Dem Mobiliar der einfacheren Bürger-
wohnung möchte ich indes eine Ausnahmestel-
lung einräumen. Unsere hart wissenschaftliche und
technisch denkende Zeit, die Individualitäten zeugt,
wie es an Zahl nie zuvor der Fall war, fängt an,
nicht ohne weiteres im Möbelstück das verzierte
als schön zu empfinden. Der Sinn für das Gute,
Echte, Techniscne, wendet sich unwillkürlich von
aller ästhetisierenden Phrase weg — und nur das
Material vermag etwa noch zu bestechen, vermag
noch ästhetisches Gefallen auszulösen — sonst ist
die Freude vielfach eine rein wirtschaftliche, tech-
nische, meinetwegen — ethische. V

V Die vornehme Wohnung hingegen erlaubt

ästhetische Freuden viel eher als die einfache. Die
ganze Stimmung des Raumes, besonders im Eigen-
hause, kann auf ästhetisches Spekulieren angelegt
werden. Hier kommt es wesentlich auf ein Zu-
sammenklingen von Allem, was im Raume ist, mit
dem Raume selbst an. Aber trotz allem Schmücken,
allem Klingen und Jubeln, aller Pracht und allem
Glanze wird dann erst volle Befriedigung im denken-
den oder besser, gebildeten Beschauer eintreten,
wenn neben der ästhetischen auch die technische
oder wirtschaftliche Tendenz des Ganzen wie der
Einzelheiten restlos befriedigt ist. Und je feiner
abgewogen diese Forderungen in beiderlei Hinsicht
sind, um so mehr regen sie die Sinne der Be-
schauenden und Geniessenden an. Diese selbst
freilich müssen sich der Umgebung, der Harmonie
des Ganzen ebenfalls anpassen. Sie gehören, so bald
sie drin stehen, zum Raume, und als Subjekte
werden sie doch zugleich Objekte. Menzels Flöten-
konzert wird das illustrieren. V

V Die Nebeneinanderstellung der Wohnungen führt

ohne weitere Umwege zu dem Schluss, dass ein und
derselbe Gegenstand durchaus nicht dieselbe Be-
handlung zu ertragen braucht, dass das, was dem
einen Lebensluft ist, den andern als Mummen-
schanz am lichten Tageabstossen kann, dass der eine
in der Umgebung seiner Wände Unteihaltung, der
andere Ruhe und Erholung braucht und dass die
Verschiebung der wirtschaftlichen und ästhetischen
Tendenzen abhängt — vom Bewohner, vom Be-
sitzenden oder Geniessenden — am Ende von der
Zeit, der Geschichtsepoche. V

V Der Künstler von heute muss diese Empfindungen

genau studieren, wenn er kulturecht schaffen will,
er muss — ich spreche hier lediglich vom „ange-
wandten“ Künstler — seine Individualität zurück-
halten und zunächst darauf bedacht sein, nicht nur
die Forderungen der Aufgabe an sich voll zu
erfassen, sondern auch die vielleicht unbewussten
Forderungen seines Klienten, die er diesem aus
der Seele herausholen muss, wie der Arzt dem
Patienten die Diagnose. Denn am Ende ist er eben
doch dessen — Haus-Arzt. V
 
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