Das Jahr 1866 und seine Folgen*)
Von Hellmuth Rößler
1.
Wir sprechen heute oft vom Fehlen eines deutschen Geschichtsbildes, das
etwa ähnlich wie dasjenige der Franzosen, Engländer oder Italiener dem Selbst-
verständnis unseres Volkes einen festen Halt böte. Wir beklagen es, wenn wir
uns der deutschen Geschichte zuwenden, daß es in ihr fast nie ein einheitliches
Geschichtsbild gab, sondern daß sich allein in der Neuzeit verschiedene Ge-
schichtsbilder der drei Konfessionen, der Österreicher, Preußen oder der Mittel-
staaten gegenüberstanden, — ganz zu schweigen von den verschiedenen Ge-
schichtsbildern der deutschen Konservativen, der Liberalen und der Sozialisten.
Nun, das Jahr 1866 und das die Folgerungen daraus ziehende Jahr 1870/71
haben ein ziemlich einheitliches deutsches Geschichtsbild entstehen lassen, zu-
mindest für die Masse der Angehörigen des Bismarckreiches. Seit damals er-
schien das Jahr 1866 als die notwendige Einleitung der Bildung eines deutschen
Nationalstaats, wie er dann 1870/71 weitgehend Wirklichkeit geworden ist. Wir
wissen heute, daß Heinrich von Gagern bei einer heftigen brieflichen Diskussion
mit seinem Vater Hans Christoph 1851 die prophetischen Worte sprach: daß
keine Nation der Welt groß geworden sei ohne einen vorangegangenen Bürger-
krieg '). Der Sezessionskrieg der USA wie dann der Bruderkrieg von 1866 be-
stätigten in den Augen der meisten Deutschen diese Auffassung. Die große na-
tionale Geschichtsschreibung der v. Sybel und Treitschke hat dann in bestem
Glauben die historischen Grundlagen dieses Nationalstaats zu finden geglaubt
in einer nationalen Politik Preußens während der vorangegangenen Jahrhun-
derte und in der Auffassung, daß das Haus Habsburg stets gegen die Interessen
Deutschlands gehandelt habe. Wenn die historischen Argumente dieses Ge-
schichtsbildes längst von der Wissenschaft widerlegt sind, so haben sie doch
auf die Deutschen ebenso eindrucksvoll gewirkt wie entsprechende Geschichts-
bilder mit fragwürdigen historischen Begründungen bei allen Nachbarn Deutsch-
lands.
Gewiß haben nach 1871 Wilhelm Liebknecht und August Bebel die Grün-
dung des Bismarckreiches wegen der Ausschließung Österreichs scharf bekämpft;
gewiß fanden sie dabei Bundesgenossen bei den deutschen Demokraten; gewiß
hat das katholische Zentrum aus der Verbundenheit des deutschen Katholizis-
mus mit Habsburg heraus dem Bismarckreich anfänglich mit Zurückhaltung
gegenübergestanden. Aber ganz verständlicherweise sind dann doch alle diese
Parteien durch die praktische Zusammenarbeit im Reichstag und mit dem Reichs-
kanzler Bismarck auf den Boden der neuen Tatsachen getreten und haben das
Bismarckreich als deutschen Nationalstaat anerkannt.
Etwa 40 Jahre später bejahte man zwar auch noch die Ereignisse von 1866,
suchte aber nun andere Folgerungen als bisher aus ihnen zu ziehen. Je mehr die
aufgeblühte deutsche Wirtschaft die Enge des kleindeutschen Wirtschaftsraumes
erkannte und eine Expansion nach der Türkei betrieb, interessierte man sich
*) Vortrag am 24. 1. 1966 im Verein f. Nassauische Altertumskunde u. Geschichtsforschung
zu Wiesbaden.
') H. Rössler, Zwischen Revolution und Reaktion, ein Lebensbild des Reichsfreiherrn Hans
Christoph v. Gagern, 1958, S. 302.
Von Hellmuth Rößler
1.
Wir sprechen heute oft vom Fehlen eines deutschen Geschichtsbildes, das
etwa ähnlich wie dasjenige der Franzosen, Engländer oder Italiener dem Selbst-
verständnis unseres Volkes einen festen Halt böte. Wir beklagen es, wenn wir
uns der deutschen Geschichte zuwenden, daß es in ihr fast nie ein einheitliches
Geschichtsbild gab, sondern daß sich allein in der Neuzeit verschiedene Ge-
schichtsbilder der drei Konfessionen, der Österreicher, Preußen oder der Mittel-
staaten gegenüberstanden, — ganz zu schweigen von den verschiedenen Ge-
schichtsbildern der deutschen Konservativen, der Liberalen und der Sozialisten.
Nun, das Jahr 1866 und das die Folgerungen daraus ziehende Jahr 1870/71
haben ein ziemlich einheitliches deutsches Geschichtsbild entstehen lassen, zu-
mindest für die Masse der Angehörigen des Bismarckreiches. Seit damals er-
schien das Jahr 1866 als die notwendige Einleitung der Bildung eines deutschen
Nationalstaats, wie er dann 1870/71 weitgehend Wirklichkeit geworden ist. Wir
wissen heute, daß Heinrich von Gagern bei einer heftigen brieflichen Diskussion
mit seinem Vater Hans Christoph 1851 die prophetischen Worte sprach: daß
keine Nation der Welt groß geworden sei ohne einen vorangegangenen Bürger-
krieg '). Der Sezessionskrieg der USA wie dann der Bruderkrieg von 1866 be-
stätigten in den Augen der meisten Deutschen diese Auffassung. Die große na-
tionale Geschichtsschreibung der v. Sybel und Treitschke hat dann in bestem
Glauben die historischen Grundlagen dieses Nationalstaats zu finden geglaubt
in einer nationalen Politik Preußens während der vorangegangenen Jahrhun-
derte und in der Auffassung, daß das Haus Habsburg stets gegen die Interessen
Deutschlands gehandelt habe. Wenn die historischen Argumente dieses Ge-
schichtsbildes längst von der Wissenschaft widerlegt sind, so haben sie doch
auf die Deutschen ebenso eindrucksvoll gewirkt wie entsprechende Geschichts-
bilder mit fragwürdigen historischen Begründungen bei allen Nachbarn Deutsch-
lands.
Gewiß haben nach 1871 Wilhelm Liebknecht und August Bebel die Grün-
dung des Bismarckreiches wegen der Ausschließung Österreichs scharf bekämpft;
gewiß fanden sie dabei Bundesgenossen bei den deutschen Demokraten; gewiß
hat das katholische Zentrum aus der Verbundenheit des deutschen Katholizis-
mus mit Habsburg heraus dem Bismarckreich anfänglich mit Zurückhaltung
gegenübergestanden. Aber ganz verständlicherweise sind dann doch alle diese
Parteien durch die praktische Zusammenarbeit im Reichstag und mit dem Reichs-
kanzler Bismarck auf den Boden der neuen Tatsachen getreten und haben das
Bismarckreich als deutschen Nationalstaat anerkannt.
Etwa 40 Jahre später bejahte man zwar auch noch die Ereignisse von 1866,
suchte aber nun andere Folgerungen als bisher aus ihnen zu ziehen. Je mehr die
aufgeblühte deutsche Wirtschaft die Enge des kleindeutschen Wirtschaftsraumes
erkannte und eine Expansion nach der Türkei betrieb, interessierte man sich
*) Vortrag am 24. 1. 1966 im Verein f. Nassauische Altertumskunde u. Geschichtsforschung
zu Wiesbaden.
') H. Rössler, Zwischen Revolution und Reaktion, ein Lebensbild des Reichsfreiherrn Hans
Christoph v. Gagern, 1958, S. 302.