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Pinder, Wilhelm
Die deutsche Plastik: vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance (Band [2] (Pind,2,2)): Die deutsche Plastik der Hochrenaissance — Wildpark-Potsdam: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, 1929

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https://doi.org/10.11588/diglit.55160#0009
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DIE „DUNKLE ZEIT“ DES 15. JAHRHUNDERTS

243

III.
Die „Dunkle Zeit“ des 15. Jahrhunderts
(ca. 1430—1470).
Das wissenschaftliche Schicksal, das für das 14. Jahrhundert charakteristisch gewesen ist,
wiederholt sich im Kleinen noch einmal bei einem Teile des 15ten. Die Jahre von etwa 1430
bis etwa 1470 — insbesondere aber ihre erste Hälfte — werden eben erst von uns entdeckt. Noch
bis vor sehr kurzer Zeit konnte der Besucher unserer großen Museen auf den Gedanken kommen:
die alte deutsche Plastik reiche zunächst etwa bis 1430; später beginne dann eine neue, die „spät-
gotische“, deren erste Werke am „Ende des 15. Jahrhunderts“ oder gar „um 1500“ liegen. Da-
zwischen klaffe das Nichts. Der Zustand ist noch immer nicht durchaus beseitigt. Er spiegelt
sich in zahlreichen neuesten Publikationen, auch in neuesten amtlichen Inventaren von subjektiv
großer Genauigkeit. Wie immer aber muß man fragen, ob der wissenschaftsgeschichtliche Vor-
gang nicht in seiner eigenen Färbung einen vielleicht sehr denkwürdigen der tatsächlichen Ge-
schichte spiegele: eine Krisis. Die Blicke der Wissenschaft waren auf die großen Maler gerichtet,
auf „Multscher“ und auf Konrat Witz. „Multscher“, ein Problem und dazu noch ein mit der
Malereigeschichte verflochtenes Problem der Plastik, schien einsam im Leeren zu hängen. Die
Werke der älteren Multscherzeit, die der älteren Zeitgenossen des zufällig mit Namen Bekannten,
existierten kaum, man sah sie kaum. Die besseren schob man — bis auf im Verhältnis wenige,
gut datierte Ausnahmen, namentlich Grabmäler—hinter 1430 zurück, so wie die der 60er und
70er Jahre in vielen Fällen in das „späte fünfzehnte“, die der 80er Jahre nach „um 1500“ wandern
mußten. Das Wenige, das man zweifellos erkannte, wurde selten gewürdigt. Der Spielkarten-
meister hatte einen viel größeren Namen als Kaschauer.
Aber dieser Leere des Geschichtsbildes entsprach vielleicht irgendwie das Wirkliche? — In
einem gewissen Sinne ja, aber doch in einem irreführenden. Es handelt sich allerdings um eine
„dunkle Zeit“, besonders bei den 40er und 50er Jahren. Etwas wie eine Atempause scheint in
der Plastik tatsächlich eingetreten zu sein; ein leichtes Nachlassen selbst der Zahl und vielleicht
auch der Qualität der Werke. Daß die Zeit um 1440 uns am stärksten in einem Maler, in Konrat
Witz leuchtet, ist wohl kein Zufall. Es mag wirklich das neue Glück der Malerei gewesen sein,
das seinen Schatten schon einmal auf die Plastik warf, wie eine vorkündende Mahnung auf das,
was mit Dürers Mannes jähren unwiederbringlich und endgültig werden sollte: die Entthronung
der Plastik als vorderster Sprache des Volkes, das Vorspiel der Entthronung aller bildenden
Kunst überhaupt, das Vorspiel jenes großen Grundvorganges der deutschen Kultur, der sich
der Reformation nur als eines wichtigsten Werkzeuges bediente, um eine neudeutsche Kultur
zu setzen, die zwar keineswegs ohne bildende Kunst, doch nicht mehr von ihr geführt, im wesent-
lichen eine Angelegenheit des philosophischen, des dichterischen und musikalischen Denkens
werden sollte.
Der Schatten hat sich noch einmal verzogen. Schon dies darf stutzig machen, daß gerade
Konrat Witz als Maler gleichsam Körper zubehaut, daß wir bei ihm (wie bei Petrus Christus
oder bei Jehan Fouquet oder bei den Florentinern von Domenico Veneziano und Castagno bis
Baldovinetti) die undurchdringliche Härte des Gestaltlichen spüren, daß selbst sein Raum wie
kantig zubehauene Körperlichkeit wirkt. Gerade diese der gleichzeitigen Plastik überlegene
Malerei ist innerlich stark plastisch. Das ist wohl ein überdeutscher, ein europäischer Vorgang

W. Pinder, Die deutsche Plastik.

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