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Pinder, Wilhelm
Die deutsche Plastik: vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance (Band [2] (Pind,2,2)): Die deutsche Plastik der Hochrenaissance — Wildpark-Potsdam: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, 1929

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https://doi.org/10.11588/diglit.55160#0029
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MANIERISTISCHE ABWANDLUNG DES WEICHEN STILES

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9. Die manieristische Abwandlung des weichen Stiles in Bauplastik und
Grabmalkunst.
Noch einmal: das Wort manieristisch wird hier ohne tadelnden Sinn, moralisch neutralisiert,
jedoch allerdings charakterisierend für eine Krisis gebraucht. Es bezeichnet eine gewisse Ver-
fremdung der Figur nach dem Gesetze vorgefaßter Formvorstellungen, die sich in erster Linie
an der Gestalt des Menschen „vergewaltigend“ äußern. Der Manierismus schlechthin, der des
16. Jahrhunderts, ist nicht umsonst weit weniger eine Angelegenheit der Landschaftsmalerei als
der Gestaltenkunst. Er verfremdet sich dem Raume, er wird flächenhaft, um eigentümliche
Linien schärfer zu prägen, und selbst an der Gestalt des Tieres „vergreift' er sich seltener als
an der des Menschen. An dieser kann er seine eigentümliche Weltempfindung, sein Anderssein,
seine „Manier“ als Formwert am stärksten zur Geltung bringen. Sie, das unmittelbare Kleid
des Ichs, erleidet eine Bedingtheit, die sie — im extremen Falle — gleichsam nach innen preßt.
Beim 16. Jahrhundert braucht man nur einmal den fälschenden Schleier wegzuhalten, den die
gröbliche Verallgemeinerung des Begriffes „Renaissance“ darüber gelegt hat. Namentlich die
Literarhistoriker treiben mit der Gleichsetzung von Renaissance und 16. Jahrhundert und mit
der Unterschiebung der „freudigen Weltbejahung“ unter beides Unfug. Kein Jahrhundert viel-
leicht hat so deutlich — gerade gegenüber der kurzen „klassischen Zeit“ — die Revolte des
Bedingtheitsbewußtseins, das Gefühl vom Tode überall zum Ausdruck gebracht. Hier wird es
sich auch literarisch nachweisen lassen. Der Hamlet, in der Frühzeit des 17. Jahrhunderts, ist
sein deutlichstes Schlußbekenntnis: das Drama des Bedingtheits- und Gehemmtheitsgefühles.
Bei dem mittleren 15. Jahrhundert, dem das Wort noch viel weniger bedeutet, dessen Gefühle
noch immer am stärksten in den Stein oder das Holz einströmen, wird das Vergleichbare —
ohnehin dumpfer — durch sichtbare Formen bezeugt. In dem artfremden Material der Sprache
wird es hier und da schwieriger zu erläutern sein. Fühlbar und schießlich beweisbar bleibt es doch.
Manierismus setzt eine gewisse Spältigkeit des Bewußtseins, eine gewisse Bewußtheit des
Veränderns voraus. Er bedarf eines Großen, Freudigen, das nun nicht mehr geglaubt wird.
Der Manierismus des Sechszehnten hatte es an der kurzen Zeit der „klassischen Kunst“ um 1500
gehabt. Selbst wo er •— wie nachweisbar sehr weitgehend — in seiner Doktrin glaubte, nur die
Konsequenz des Klassischen zu ziehen, verrät er sich. Man kann sich einen Glauben vortäuschen,
gegen den man handelt. „Man spricht gern von den Eigenschaften, die man nicht hat.“ Den
Kunsthistoriker sollte der Manierismus gerade in dem interessieren, was er veränderte, gerade
wenn er glaubte nachzuahmen, wodurch er veränderte, zuletzt: warum. Offenbar setzt er ein
inneres Irrewerden voraus, er kommt — blutleerer, raffinierter, weit weniger naiv, als das barocke
Empfinden — zu dem erzwungenen Panzer einer Haltung, die seine Nervosität maskiert. Die
Dissonanz, im Barock als ein Mittel naiver Leidenschaft häufig, im mittleren Fünfzehnten typisch
für die Madonna von Freising und noch mehr die von S. Severin, ist als formales Mittel zwar
auch dem Manierismus nicht ganz fremd; aber dessen typisches Mittel ist nicht sie, sondern ihr
Gegenteil: die auf- und vordringliche Konsonanz. In der vordringlichen Konsonanz des For-
malen — wie das Brunn-Grabmal in seinen ständig wiederholten Parallelen sie zeigt — liegt ein
verräterischer Wille zum Mathematisieren, ein Wille, die Regel über das „Leben“ zu stellen.
Daher: maniera. In der äußersten Konsequenz führt er zur Kristallisation. Dahinter steht —
wo es sich um organische Formen handelt — der Tod. Daß aber die Kristallisation nie ganz
vollendet,daß sie nur als verändernde Möglichkeit angedeutet wird, verleiht den seltsam schweben-
den, bei den tieferen Meistern bänglich oder mystisch, bei den flacheren oft fast kokett wirkenden
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