362
DIE ENGELRELIEFS VON TRIER UND ERFURT
b) Die Gegensätze um 1470
Schon in Gerhart fanden wir zwei Möglichkeiten, die der feinen ruhigen Naturbeobachtung
und die der in sich zweckfrei fließenden Bewegung. Sie stehen bei ihm in der Harmonie gegen-
seitiger Ergänzung. Was das Genie in sich vereinigt, tritt bei anderen oft heftig auseinander.
Naturbeobachtung freilich ist bei den Deutschen überhaupt nur untergeordnetes Mittel. Aber
es gibt einen stillen, strengen Stil um 1470, der, Gerhart fremd, als Parallele zur Seite steht.
Und es gibt einen rauschend bewegten, völlig gleichzeitigen, der Gerhart zunächst ebenso selb-
ständig entspricht, aber sich mit seinen Wirkungen verbinden kann und, gleich Gerhart oder
durch Gerhart, unmittelbar auf den Stil der 80er Jahre hinleitet. Einiges erschien schon, der
Eindruck muß verbreitert werden.
Das reiche Jahr 1467 mit seiner nächsten Umgebung beleuchtet die Kontraste besonders deutlich. Jenseits
von Gerhart sind die feinsten Gegenspieler Peter von Wederath und der Erfurter Alabastermeister von 1467.
Dessen schönstes und deutlichstes Zeugnis ist der Engel der Severikirche. Er geht über die in Thüringen zu dieser
Zeit übliche Qualität hinaus, scheint aber doch einer Erfurter Richtung zu entstammen. Die kleinen Engel an der
Grabplatte des Theodor Brun (s 1462) weisen schon auf ihn hin (vgl. auch H. Kunze, Die got. Sk. in Mitteldeutsch-
land). Der Meister muß irgendwo größere Luft verspürt, Großes gesehen haben. Vor allem ist er selbst hohe
Qualität; und so ist nichts lehrreicher, als ein Vergleich des Erfurter Engels mit dem Trierer des Görlitz-Epitaphes
(Abb. 341/342). Man spürt die gleiche Zeitfarbe, den gleichen Trieb, über den Rahmen hinaus zu gehen, den
gleichen Sinn für das heraldisch Kostbare und für wappenhaften Glanz. Aber der Erfurter Engel ist schnittig,
wo der Trierer rauscht; bei jenem Zirkulation, hier lange Linie; dort diagonale Kurvatur, hier winklige Geradheit
der Flügel; dort regellose Wellen, hier regelhafte Stegbildung der Falten. Sofort zeigt sich auch der bekannte
Unterschied des Seelischen: der Trierer Engel blüht aktiv in seinem wasserhaft beweglichen Elemente, ein schöner
Knabe; der Erfurter verhält passiv in der metallisch strengen Gesetzlichkeit des seinen, ein geschlechtsloses
Zwischenwesen. Es regt sich nicht wenig werdende Regellosigkeit im Erfurter Relief; aber sie bleibt gleichsam
überall an Haken hängen, verschlägt sich in Winkeln. Es ist viel geheime heraldische Gebundenheit im Trierer;
aber ihre verborgene Gesetzlichkeit vollzieht sich unter dem Scheine hemmungsloser Freiheit.
Was hier wirkt, das sind die beiden Pole manieristisch strenger Linearität und barock be-
wegter Raumkörperlichkeit. Ihre Gleichzeitigkeit muß man sich einprägen. Es ist der gleiche
Gegensatz wie zwischen Kaschauers Madonna und dem Würzburger Brunn-Grabmal. Aber selten
wohl ist er so dramatisch deutlich wie um 1467. Ein Stich des E. S. von diesem Jahre, gegen den
Löwener Sakramentsaltar des Dierk Bouts gehalten, besagt nichts anderes. Bei dem kurzen
Umblick über die wichtigsten Gegenden bewegen wir uns ständig zwischen diesen beiden Polen.
Auf 1480 hin wird aber zunächst die barocke Richtung siegen. Sie ist offenbar die der jüngeren
Generation. Dafür wird die Spätgotik der 90er Jahre der innerlich älteren Richtung entsprechen.
Dem Trierer Meister würde man ein Werk nicht zutrauen können, wie es der Verf. in der ersten nördlichen
Kapelle des Magdeburger Domes als sichere Arbeit des Erfurter Alabaster-Meisters wieder zu erkennen glaubt.
Das Fragment einer kleineren Gruppe des Auferstandenen mit Engeln, material- und stilgleich mit dem Relief
der Severikirche, vom delikatesten Reiz eines fein trübseligen Manierismus. Die wichtige Zahl 1467 taucht noch
zweimal im Zusammenhang mit unserem Meister auf: einmal am Taufstein der Erfurter Severikirche, „über-
stiegen von einem dreiseitigen Baldachin, im Motiv an Brunnen-Architektur erinnernd, höchster Handwerks-
triumph in der Bewältigung des Steinmaterials“ (Dehio-Handbuch). Man darf dabei auch an Sakramentshäuser
erinnern, aber wie diese meistens in der Fülle der plastischen Besetzung von geringerer Qualität sind, so haben
wir es auch hier wohl mit Werkstattarbeit zu tun (Overmann a. a. O.). Dann aber: der alabasterne lebens-
große Mauritius des Magdeburger Domes (Kunze a. a. O. Abb. 67). Es ist der Geist manieristisch eleganter Starre,
wie wir ihn bei dem Regensburger Meister des Lupburger Parsberg-Grabmals kennen gelernt — und beim Truchseß
von Waldsee, der ja zur gleichen Zeit die heraldische Eleganz der Einzelheiten mit dem Michaels-Relief in St.
Severi teilt. Wieder also ein Gebiet, das wir bei der dunklen Zeit erreicht hatten.
Zur Bedeutung der Generation tritt die der stammlichen Faktoren. Es ist z. B. leicht anzu-
nehmen, daß Schwaben nach dem Pole der strengen Form hinneigen wird. Seine großartigste
DIE ENGELRELIEFS VON TRIER UND ERFURT
b) Die Gegensätze um 1470
Schon in Gerhart fanden wir zwei Möglichkeiten, die der feinen ruhigen Naturbeobachtung
und die der in sich zweckfrei fließenden Bewegung. Sie stehen bei ihm in der Harmonie gegen-
seitiger Ergänzung. Was das Genie in sich vereinigt, tritt bei anderen oft heftig auseinander.
Naturbeobachtung freilich ist bei den Deutschen überhaupt nur untergeordnetes Mittel. Aber
es gibt einen stillen, strengen Stil um 1470, der, Gerhart fremd, als Parallele zur Seite steht.
Und es gibt einen rauschend bewegten, völlig gleichzeitigen, der Gerhart zunächst ebenso selb-
ständig entspricht, aber sich mit seinen Wirkungen verbinden kann und, gleich Gerhart oder
durch Gerhart, unmittelbar auf den Stil der 80er Jahre hinleitet. Einiges erschien schon, der
Eindruck muß verbreitert werden.
Das reiche Jahr 1467 mit seiner nächsten Umgebung beleuchtet die Kontraste besonders deutlich. Jenseits
von Gerhart sind die feinsten Gegenspieler Peter von Wederath und der Erfurter Alabastermeister von 1467.
Dessen schönstes und deutlichstes Zeugnis ist der Engel der Severikirche. Er geht über die in Thüringen zu dieser
Zeit übliche Qualität hinaus, scheint aber doch einer Erfurter Richtung zu entstammen. Die kleinen Engel an der
Grabplatte des Theodor Brun (s 1462) weisen schon auf ihn hin (vgl. auch H. Kunze, Die got. Sk. in Mitteldeutsch-
land). Der Meister muß irgendwo größere Luft verspürt, Großes gesehen haben. Vor allem ist er selbst hohe
Qualität; und so ist nichts lehrreicher, als ein Vergleich des Erfurter Engels mit dem Trierer des Görlitz-Epitaphes
(Abb. 341/342). Man spürt die gleiche Zeitfarbe, den gleichen Trieb, über den Rahmen hinaus zu gehen, den
gleichen Sinn für das heraldisch Kostbare und für wappenhaften Glanz. Aber der Erfurter Engel ist schnittig,
wo der Trierer rauscht; bei jenem Zirkulation, hier lange Linie; dort diagonale Kurvatur, hier winklige Geradheit
der Flügel; dort regellose Wellen, hier regelhafte Stegbildung der Falten. Sofort zeigt sich auch der bekannte
Unterschied des Seelischen: der Trierer Engel blüht aktiv in seinem wasserhaft beweglichen Elemente, ein schöner
Knabe; der Erfurter verhält passiv in der metallisch strengen Gesetzlichkeit des seinen, ein geschlechtsloses
Zwischenwesen. Es regt sich nicht wenig werdende Regellosigkeit im Erfurter Relief; aber sie bleibt gleichsam
überall an Haken hängen, verschlägt sich in Winkeln. Es ist viel geheime heraldische Gebundenheit im Trierer;
aber ihre verborgene Gesetzlichkeit vollzieht sich unter dem Scheine hemmungsloser Freiheit.
Was hier wirkt, das sind die beiden Pole manieristisch strenger Linearität und barock be-
wegter Raumkörperlichkeit. Ihre Gleichzeitigkeit muß man sich einprägen. Es ist der gleiche
Gegensatz wie zwischen Kaschauers Madonna und dem Würzburger Brunn-Grabmal. Aber selten
wohl ist er so dramatisch deutlich wie um 1467. Ein Stich des E. S. von diesem Jahre, gegen den
Löwener Sakramentsaltar des Dierk Bouts gehalten, besagt nichts anderes. Bei dem kurzen
Umblick über die wichtigsten Gegenden bewegen wir uns ständig zwischen diesen beiden Polen.
Auf 1480 hin wird aber zunächst die barocke Richtung siegen. Sie ist offenbar die der jüngeren
Generation. Dafür wird die Spätgotik der 90er Jahre der innerlich älteren Richtung entsprechen.
Dem Trierer Meister würde man ein Werk nicht zutrauen können, wie es der Verf. in der ersten nördlichen
Kapelle des Magdeburger Domes als sichere Arbeit des Erfurter Alabaster-Meisters wieder zu erkennen glaubt.
Das Fragment einer kleineren Gruppe des Auferstandenen mit Engeln, material- und stilgleich mit dem Relief
der Severikirche, vom delikatesten Reiz eines fein trübseligen Manierismus. Die wichtige Zahl 1467 taucht noch
zweimal im Zusammenhang mit unserem Meister auf: einmal am Taufstein der Erfurter Severikirche, „über-
stiegen von einem dreiseitigen Baldachin, im Motiv an Brunnen-Architektur erinnernd, höchster Handwerks-
triumph in der Bewältigung des Steinmaterials“ (Dehio-Handbuch). Man darf dabei auch an Sakramentshäuser
erinnern, aber wie diese meistens in der Fülle der plastischen Besetzung von geringerer Qualität sind, so haben
wir es auch hier wohl mit Werkstattarbeit zu tun (Overmann a. a. O.). Dann aber: der alabasterne lebens-
große Mauritius des Magdeburger Domes (Kunze a. a. O. Abb. 67). Es ist der Geist manieristisch eleganter Starre,
wie wir ihn bei dem Regensburger Meister des Lupburger Parsberg-Grabmals kennen gelernt — und beim Truchseß
von Waldsee, der ja zur gleichen Zeit die heraldische Eleganz der Einzelheiten mit dem Michaels-Relief in St.
Severi teilt. Wieder also ein Gebiet, das wir bei der dunklen Zeit erreicht hatten.
Zur Bedeutung der Generation tritt die der stammlichen Faktoren. Es ist z. B. leicht anzu-
nehmen, daß Schwaben nach dem Pole der strengen Form hinneigen wird. Seine großartigste