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DIE ZEIT DES SPÄTEREN 15. JAHRHUNDERTS
Nordhausen lebt, der 1461 datiert ist (Inv. Grätsch. Hohenstein, S. 60). Passarge hat in seinem hübschen Buche
„Das deutsche Vesperbild im Mittelalter“ (S. 69ff.) diesen Typus richtig charakterisiert und mit wichtigen Bei-
spielen belegt. Das Turiner Stundenbuch, das Votivrelief von Ellrich, die Nürnberger Grablegung der Ägidien-
Kirche von 1446 (Abb. S. 270) beweisen die Bedeutung der malerischen Kompositionsform. In der Einzelplastik
kommt der Typus nach P. schon früh, um 1400, in England auf. Die volle Vorderansicht des Toten hat die bur-
gundische Kalkstein-Pietä des Frankfurter Liebighauses, die Slüter noch verbunden sein könnte. (Die Pieta des
großen Niederländers von 1390 ist verloren und in ihrer Form unbekannt. Vielleicht hatte auch sie schon den neuen
Typus.) Westen also und malerische, vergegenwärtigende Phantasie. Für die deutsche Plastik ist es jedenfalls
wichtig, daß erst die dunkle Zeit an diese Form herantrat. Das Nähere bei Passarge. Die Steingruppe von Nien-
borg in Westfalen, die wundervoll feine hölzerne aus Groß-Urleben im Erfurter Museum, die aus Stedtfeld im
Eisenacher. Die letztere formal eigentümlich durch die Überlebensgroße, die deutliche Erinnerung also an den
alten heroisch-monumentalen Typus, und durch die stark horizontale Lage des Christuskörpers, eine Erinnerung
also an die Zeit um 1400. Das Werk scheint fränkisch. Groß ist in jedem Sinne, äußerlich und innerlich, die ge-
waltig ernsthafte Gruppe aus Hedelfingen in Stuttgart, datiert 1741 (Abb.337). Noch Erinnerungen an Multscher,
zugleich schon Einiges von der noblen Schnittigkeit des gleichzeitigen Ulmer Chorgestühles.
IV.
Die Zeit des späteren 15. Jahrhunderts
• • ußerliche und innerliche Gründe vereinigen sich, der weiteren Darstellung ein anderes Tempo zu geben.
Es handelt sich von jetzt an nicht so sehr um Aufdeckung und Hinstellung sachlich unbekannter Werte,
1 Bals um Sichtung und Deutung schon bekannterer. Während die Stoffmenge sich enorm erweitert, sind die
hervortretenden Werte in höherem Maße uns vertraut. Mit einer Freiheit, die in den bisher behandelten Gebieten
nicht erlaubt war, müssen und dürfen relativ wenige Erscheinungen — immerhin von stattlicher Zahl — für
riesige Mengen des Erhaltenen als Vertreter zeugen. Der Stoffnachweis, der bisher den Verf. in zahlreichen Fällen
zu mühsamen ersten Forschungen zwang, tritt zurück. Dem eigentlichen Fachmann kann also nicht mehr wie
bisher der Weg zum einzelnen gewiesen und der Stand der Probleme darf weit seltener untersucht werden. Das
Wesentliche muß der Versuch einer Perspektive sein.
Bis in die außerordentlich kritische Situation des frühen 16. Jahrhunderts hinein lassen sich
aus der Fülle überkreuzter Möglichkeiten mit besonderer Deutlichkeit der Stil von 1480 und eine
Gegenbewegung in den 90er Jahren erkennen; in beiden Fällen wird es sich um bestimmende
Majoritäten handeln. Die überstimmten Minderheiten werden nicht geleugnet, aber zur Ver-
deutlichung des Wesentlichen im Schatten gelassen werden. Was in den großen Bewegungen der
80er und 90er Jahre an Gegensätzlichkeit auf gemeinsamer Basis hervortritt, wird als Teil eines
Gesamtrhythmus dargestellt. Die hier als Folge abzulesenden Gegensätze sind jedoch, wie in
der dunklen Zeit, auch in der wichtigen Übergangsperiode um 1470 und hier in geradezu dramati-
scher Form zusammengedrängt. Wir betrachten also zunächst:
1 1. Die Situation um 1470
a) Nikolaus Gerhart und seine nächsten Wirkungen
Im Zentrum steht ein Meister von wahrhaft europäischem Ausmaße: Nikolaus Gerhart.
In Trier tritt er uns zuerst entgegen, in Österreich ist er gestorben. Das Rheinland und Österreich
besitzen zugleich das meiste, das außerhalb vonGerharts sicheremWirkungskreise seinem innersten
Wollen parallel gewesen ist.
Die Herkunft nicht völlig gesichert. Unter dem Baden-Badener Kruzifixus von 1467 nennt er selbst sich
Nikolaus von Leyen. Ley ist das moselfränkische Wort für Felsen (Loreley), v. d. Leyen heißt eine bekannte
Adelsfamilie jener Gegend. Man könnte erwägen, ob der Name Leyden (so 1490 in einer Konstanzer Urkunde) nicht
DIE ZEIT DES SPÄTEREN 15. JAHRHUNDERTS
Nordhausen lebt, der 1461 datiert ist (Inv. Grätsch. Hohenstein, S. 60). Passarge hat in seinem hübschen Buche
„Das deutsche Vesperbild im Mittelalter“ (S. 69ff.) diesen Typus richtig charakterisiert und mit wichtigen Bei-
spielen belegt. Das Turiner Stundenbuch, das Votivrelief von Ellrich, die Nürnberger Grablegung der Ägidien-
Kirche von 1446 (Abb. S. 270) beweisen die Bedeutung der malerischen Kompositionsform. In der Einzelplastik
kommt der Typus nach P. schon früh, um 1400, in England auf. Die volle Vorderansicht des Toten hat die bur-
gundische Kalkstein-Pietä des Frankfurter Liebighauses, die Slüter noch verbunden sein könnte. (Die Pieta des
großen Niederländers von 1390 ist verloren und in ihrer Form unbekannt. Vielleicht hatte auch sie schon den neuen
Typus.) Westen also und malerische, vergegenwärtigende Phantasie. Für die deutsche Plastik ist es jedenfalls
wichtig, daß erst die dunkle Zeit an diese Form herantrat. Das Nähere bei Passarge. Die Steingruppe von Nien-
borg in Westfalen, die wundervoll feine hölzerne aus Groß-Urleben im Erfurter Museum, die aus Stedtfeld im
Eisenacher. Die letztere formal eigentümlich durch die Überlebensgroße, die deutliche Erinnerung also an den
alten heroisch-monumentalen Typus, und durch die stark horizontale Lage des Christuskörpers, eine Erinnerung
also an die Zeit um 1400. Das Werk scheint fränkisch. Groß ist in jedem Sinne, äußerlich und innerlich, die ge-
waltig ernsthafte Gruppe aus Hedelfingen in Stuttgart, datiert 1741 (Abb.337). Noch Erinnerungen an Multscher,
zugleich schon Einiges von der noblen Schnittigkeit des gleichzeitigen Ulmer Chorgestühles.
IV.
Die Zeit des späteren 15. Jahrhunderts
• • ußerliche und innerliche Gründe vereinigen sich, der weiteren Darstellung ein anderes Tempo zu geben.
Es handelt sich von jetzt an nicht so sehr um Aufdeckung und Hinstellung sachlich unbekannter Werte,
1 Bals um Sichtung und Deutung schon bekannterer. Während die Stoffmenge sich enorm erweitert, sind die
hervortretenden Werte in höherem Maße uns vertraut. Mit einer Freiheit, die in den bisher behandelten Gebieten
nicht erlaubt war, müssen und dürfen relativ wenige Erscheinungen — immerhin von stattlicher Zahl — für
riesige Mengen des Erhaltenen als Vertreter zeugen. Der Stoffnachweis, der bisher den Verf. in zahlreichen Fällen
zu mühsamen ersten Forschungen zwang, tritt zurück. Dem eigentlichen Fachmann kann also nicht mehr wie
bisher der Weg zum einzelnen gewiesen und der Stand der Probleme darf weit seltener untersucht werden. Das
Wesentliche muß der Versuch einer Perspektive sein.
Bis in die außerordentlich kritische Situation des frühen 16. Jahrhunderts hinein lassen sich
aus der Fülle überkreuzter Möglichkeiten mit besonderer Deutlichkeit der Stil von 1480 und eine
Gegenbewegung in den 90er Jahren erkennen; in beiden Fällen wird es sich um bestimmende
Majoritäten handeln. Die überstimmten Minderheiten werden nicht geleugnet, aber zur Ver-
deutlichung des Wesentlichen im Schatten gelassen werden. Was in den großen Bewegungen der
80er und 90er Jahre an Gegensätzlichkeit auf gemeinsamer Basis hervortritt, wird als Teil eines
Gesamtrhythmus dargestellt. Die hier als Folge abzulesenden Gegensätze sind jedoch, wie in
der dunklen Zeit, auch in der wichtigen Übergangsperiode um 1470 und hier in geradezu dramati-
scher Form zusammengedrängt. Wir betrachten also zunächst:
1 1. Die Situation um 1470
a) Nikolaus Gerhart und seine nächsten Wirkungen
Im Zentrum steht ein Meister von wahrhaft europäischem Ausmaße: Nikolaus Gerhart.
In Trier tritt er uns zuerst entgegen, in Österreich ist er gestorben. Das Rheinland und Österreich
besitzen zugleich das meiste, das außerhalb vonGerharts sicheremWirkungskreise seinem innersten
Wollen parallel gewesen ist.
Die Herkunft nicht völlig gesichert. Unter dem Baden-Badener Kruzifixus von 1467 nennt er selbst sich
Nikolaus von Leyen. Ley ist das moselfränkische Wort für Felsen (Loreley), v. d. Leyen heißt eine bekannte
Adelsfamilie jener Gegend. Man könnte erwägen, ob der Name Leyden (so 1490 in einer Konstanzer Urkunde) nicht