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Pinder, Wilhelm
Die deutsche Plastik: vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance (Band [2] (Pind,2,2)): Die deutsche Plastik der Hochrenaissance — Wildpark-Potsdam: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, 1929

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https://doi.org/10.11588/diglit.55160#0174
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DIE KRISIS UM 1530 - DIE SPÄTGOTIK UM 1500

an im Kampfe stehen: Propaganda statt Selbstverständlichkeit. In Deutschland ist die religiöse
Krise gleichzeitig mit dem letzten Aufschwünge der bildenden Kunst, sie ließ aber dieser in
höherem Maße nur das Profane übrig. Das Abgleiten der bildenden Kunst in das Profane und
Formale, das Gesellschaftliche und Persönliche, war allgemeines Schicksal, so grandios die ge-
legentlichen Gegenstöße der Religiosität waren. Aber vielleicht nur in Deutschland traf es das
Herz der bildenden Kunst. Noch Grünewald lebte völlig in der religiösen Erschütterung. Schon
Dürer wurde durch Bildungssorgen und formale Bedenken irritiert. Holbein der Jüngere gar
ist im wesentlichen wohl mit Recht als areligiös erkannt. Sein unheimlicher und herrlicher Toten-
tanz ist mehr von philosophischem Pessimismus als von tiefer Gläubigkeit gespeist. Die westliche
Kultur, England mit seinem starken französischen Einschlag, seiner höfischen Menschenwelt,
fing sich den letzten großen Genius der altdeutschen Malerei ein. Ein halbwegs verwandter
Plastiker wie Konrad Meit verließ Deutschland schon viel früher, schon im zweiten Jahrzehnt.
Ähnlich gestimmte Geister, schon Peter Vischer d. J., H. Daucher, Flötner, Schwarz, eigentlich
auch Loy Hering oder gar Hans Vischer, gingen in das kleine Format und schufen mehr oder
minder Kunst für Kenner — nicht mehr die große alte, von religiösen Kräften gespeiste, sondern
eine formal sehr hohe, doch langsam dem Volke sich entfremdende, eben eine formale Kunst. Sie
verließen den Altar und das Kirchliche überhaupt. Neben ihnen wurde die alte Altarkunst in einen
letzten Taumel hochgepeitscht; von den Alten in einer Form, die dem Frühbarock Italiens,
jenem Michelangelos, auch des späten Raffael entsprach; von den Jüngeren, den Altersgenossen
der Daucher, Hering, Flötner, in fast vergleichloser Generationsspaltung mehr nach dem Manie-
ristischen hin, in einem aufgeregten Manierismus, der von weitem gewiß nur als Nuance des
letzten ,,Spätgotischen Barocks“ wirken, aber doch vom eigentlichen Frühbarock unterschieden
werden kann. Vor diesen Formgeschehnissen lag ein von innen heraus und völlig natürlich auf-
wachsendes Werben um eine natürliche motivierte Bewegung, um Fülle, Statik, Ruhe, Über-
schaubarkeit der Form; eben jene Kunst, die vom Europäischen aus gesehen eine gewisse, sehr
fragmentarische Parallele zur italienischen Plastik bildet — es scheint sie nur noch in Deutsch-
land so verhältnismäßig deutlich gegeben zu haben. Wir nannten sie kurz ,,frühklassisch“.
Vielleicht werden wir sie am besten noch neutraler als ,,deutsche Kunst um 1500“ bezeichnen.
Sie wuchs aus der Spätgotik, aber mehr noch gegen sie, so wie in Italien (wo wir die Spätgotik
neutral und ungenau als „Quattrocento“ zu bezeichnen pflegen). Sie trägt einen Hauch Dürer-
schen Wesens an sich — noch nicht oder kaum Dürerschen Einflusses. Aber wir wissen auch schon,
daß jene Spätgotik selbst noch mit alten großen, langlebigen Vertretern neben ihr weiter lebte.
Sie ist zuerst zu betrachten. Bei dieser Betrachtung wolle man noch einmal bedenken, daß
ein völlig verändertes Tempo von Nöten ist. Es besteht nicht die Möglichkeit und darum nicht
die Absicht, hier irgendwie auch nur diejenige angedeutete Vollständigkeit zu erreichen, die
für das ältere 15. Jahrhundert zu geben war. Die Haupterscheinungen müssen für viele
andere als Vertreter gelten.
13. Die Spätgotik um 1500.
Die Spätgotik tritt, wie der Rausch der 80er Jahre verklingt, zunächst wieder in einer stilleren
Form auf. Schwaben darf hier in erster Linie stehen, und innerhalb Schwabens Ulm.
Es ist dazu vorausbestimmt, wie der Südosten oder der Oberrhein zur ersten Stelle in der Kunst der 80er
Jahre. Als stetiger Faktor zeigte es immer in diese Richtung. Es ist das Land Multschers. Die Sterzinger Ma-
donna war das früheste vollendete Beispiel des Stiles der langen Linie, der verwandelten Wiederkehr des Vier-
zehnten als Ausdruck einer neuen bürgerlichen Idealität. Dann das Ulmer Chorgestühl, der Tiefenbronner Altar!
Der Tiefenbronner, ganz offenbar gleich der Heggbacher Madonna das Werk eines vom Sterzinger Multscher
 
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