Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Pinder, Wilhelm
Die deutsche Plastik: vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance (Band [2] (Pind,2,2)): Die deutsche Plastik der Hochrenaissance — Wildpark-Potsdam: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, 1929

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.55160#0173
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
SINN DER KRISIS UM 1530

397

Meister in Malerei und Plastik, wie sie der nun zu behandelnden Epoche zugehört, ist in Deutsch-
lands Geschichte einzig und im damaligen Europa nur gerade von Italien noch etwa erreicht —
nicht überboten.
Indes, muß nunmehr gesagt werden, daß die Schicksalslinien gerade Deutschlands und Italiens
von da an um so energischer auseinander laufen. Ja, das Schicksal Deutschlands scheint sich
vorübergehend aus dem europäischen sondern zu wollen, doch nur, um dieses für die Dauer am
stärksten auszuprägen. Hier eher als irgendwo anders tritt nämlich jene Krisis der bildenden
Kunst, aller bildenden Kunst als solcher, zu Tage, deren Ergebnis heute in Europa überall
zu sehen ist. Man mag sie, vorsichtig, im allgemeinen nur eine soziologische nennen; bei uns
betrifft sie, und zwar unmittelbar nach dem Zeitalter Dürers, deutlicher als irgendwo auch die
Qualität. Soziologisch gesehen ist seit dem 19ten Jahrhundert völlig deutlich — und es wird
hier nur für die überschaubare Geschichtsstrecke festgestellt, ohne Versuch von Prophezeiungen-
daß, überall in sehr verschiedenem Tempo, der Anspruch der bildenden Kunst auf Führerschaft
an alle Denk- und Schaffensformen jenseits des Sichtbaren allmählich abgetreten wurde. Noch
heute mag Deutschland, so wie es sich selbst ganz unwillkürlich sieht, diese gesamteuropäische
Lage am klarsten darstellen. Die großen Toten, deren Hundertjahrfeier es in den Jahren um
1930 begeht (oder begehen sollte), Jean Paul, Beethoven, Schubert, Hegel, Goethe sind Meister
der Worte oder der Töne. Die großen Toten von 1530 sind bildende Künstler: Dürer, Grüne-
wald, Peter Vischer d. J., Peter Vischer d. Ä., Burkmair, Riemenschneider, Stoß. Noch einmal: Es
wird nicht von der Qualität, sondern von der soziologischen Rolle geredet, von dem sprechendsten
Bedürfnis der Allgemeinheit nach den Formen schöpferischer Kunst als unmittelbarstem und
unwillkürlichstem Ausdruck des gesamten Lebens. Sie kann sich sogar als Bewußtheit des Führer-
tums spiegeln. Die Rolle, die Goethe um 1800 spielte, spielt um 1500 Dürer. Der Dichter fühlte
sich um 1800 als verantwortlicher Kulturherrscher, sowie es um 1500 der Maler tat. Die Formen
mögen verschieden sein; die Tatsache wird kaum bestritten werden. Noch deutlicher aber
als das Sterben der Großen um 1830 das gewaltige geistige Leben um 1800 verdeutlicht, stellt
das große Sterben unter den deutschen Künstlern um 1530 das Leben um 1500 vor Augen, das
unter der Führerschaft der bildenden Künste stand. Jenes Sterben traf Jüngere wie Hans
von Kulmbach, Männer wie Dürer, Greise wie Veit Stoß. Es fiel auch in die Zeit, als Holbein
der Jüngere Deutschland verließ. Dieses große Sterben ist nicht der Grund für die Krisis der
deutschen Kunst. Es ist — aber gewiß nur für den, der über psychologische Kausalität hinaus
das Anschauliche der Vitalität eben anzuschauen vermag— ihr Ausdruck, eine ihrer Ercheinungs-
seiten. In der Leidenschaft, mit der das deutsche Volk sich den Reformationskämpfen ver-
schrieb — neben den großen bildenden Künstler, der noch einmal bildende Kunst als lebendigste
Sprache vertrat, zum letzten Male, obwohl vielleicht als Erster mit völliger Bewußtheit, trat
schon Luther —, in diesem seelischen Ringen, auch in der beginnenden Macht des Humanismus,
liegen schon eher faßbare Gründe. Das deutsche Volk kehrte sich jetzt „nach innen“, es verlor
wahrhaftig nicht die Fähigkeit zur bildenden Kunst, es hat noch vieles Große in ihr geleistet,
aber es überließ sich den religiösen Anliegen — die einst der bildenden Kunst die stärksten Triebe
liehen — zunächst in einer für jede Augenkunst bedenklichen, wiewohl großartigen Einseitigkeit.
Es untergrub einfach ihre Bedingungen: vor allem den Altar. Für die anderen Völker, nament-
lich für das italienische, traf das nicht zu. Überall aber und wieder auch in Italien hat die Epoche
nach 1530 zunächst eine Schwächung der religiösen Erschütterungsfähigkeit gebracht, zumindest
eine Schwächung dieser gewaltigen Kraft in ihrer Macht über die bildende Kunst. Sehr bald
trieb die innere Kraft der Kirche die Gegenreformation hervor; aber auch diese sollte von nun
 
Annotationen