Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Pinder, Wilhelm
Die deutsche Plastik: vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance (Band [2] (Pind,2,2)): Die deutsche Plastik der Hochrenaissance — Wildpark-Potsdam: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, 1929

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.55160#0175
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
ULMER SPÄTGOTIK UM 1500

399

ausgehenden Schülers, ist gerade-
zu der Übergang zum schönsten
Ulmer Altäre der neuen Epoche,
dem von Blaubeuren. 1493—94
datiert. Einer der besterhaltenen
ganz Deutschlands, niemals an-
getastet, von sorgsamen Reini-
gungen abgesehen; von strahlen-
der Schönheit auch der Farben
(viel Gold). Die Einberechnung
in das farbige Ganze des Raumes
gut geschildert bei Baum (Ulmer
PI. um 1500 S. 82). Plastik, Re-
lief, Malerei wirken zusammen.
Das Wichtigste die 5 Hauptfigu-
ren: Madonna zwischen beiden
Johannes, außen Benedikt und
Scholastika. Man spürt, daß die
Epoche der 80er Jahre in milder
Abtönung hindurchklingt, und
dies in stärkstem Gegensätze zu
Syrlin d. J. und seinem Kreise
(s. unten, S.400f.). Die Gesamtbe-
wegung aller 5 Figuren, zart-
pflanzenhaft wie das Sichauftuen
eines Blütenkelches, ist in der
Madonna als leise Torsion voll
feinster Verschränkung gesam-
melt. Noch etwas vom weicheren
Tanze der 80er Jahre, noch nicht
ganz fern dem Geiste des Ravens-
burgers Friedrich Schramm(l 480),
den man sich sogar als den Lehr-
meister des Blaubeurers denken
könnte. Aber es bildet sich eine
Zusammenziehung: der Kontrast
von Kern und Schale geht deutlich
zurück. Wie sehr er latent noch
immer wirkte, lehrt der Vergleich
mit Sterzing. Die Verräumlichung der Figur, dort sehr zart angedeutet, in den 80er Jahren oft bis zum
Extremen das Lieblingsproblem, ist nun Voraussetzung geworden, nun nicht mehr Zweck, sondern Mittel.
Gestrige Zwecke entpuppen sich gerne als heutige Mittel. Die größere Geschlossenheit des Gesamtvolumens
wirkt als eine neue Gesamtkörperlichkeit; freilich, beileibe keine anatomische, nicht einmal im weitesten Sinne.
Nichts bezeichnender als die Lage des Kniees: sie ist nicht vom Körper, sondern vom Gesamtorganismus der
Gewandfigur diktiert. Ihre Form wirkt „aufgeschrieben“. Das Ganze ist tatsächlich, trotz geringeren Rau-
schens, echter malerisch gesehen als die Figuren der 80er Jahre. Diese waren Linienpolyphonie im Hohlraume.
Hier ist wesentlicher die Schichtung hinter einer Sehebene. Eine ungemeine Lieblichkeit und zarte Strenge im
Ausdruck, auch seelisch Spätgotik. Im Täufer die ähnlichste innere Intensität zu der der Madonna; im Evan-
gelisten die Abkunft vom Tiefenbronner Altäre am deutlichsten (Abb. 375).
Vöge erkennt die gleiche Hand in der großen Schutzmantel-Maria des Berliner Museums aus Kaisheim.
Stammte sie wirklich von dem Hochaltar der Kaisheimer Zisterzienserkirche, so hätten wir einen historischen
Anhaltspunkt. 1502—4 haben die 3 besten Augsburger Meister, Adolf Dau eher der Kastner, Bildhauer Gregori
(Erhärt) und Hans Holbein (d. Ä.) den Hochaltar geliefert. Gehört die Berliner Madonna dazu, so haben wir
deren Künstler; ist sie vom Blaubeurer Meister, so ist dieser identisch mit Gregor Erhärt. Eine Madonna des

375. Mittelteil des Hochaltares von Blaubeuren.
 
Annotationen