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Pinder, Wilhelm
Die deutsche Plastik: vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance (Band [2] (Pind,2,2)): Die deutsche Plastik der Hochrenaissance — Wildpark-Potsdam: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, 1929

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https://doi.org/10.11588/diglit.55160#0075
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NÜRNBERG

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Form dieser Abwendung, eine neue, im früheren Sinne unmelodische Konsonanz des Linearen,
haben wir oben (S. 269) kennen gelernt. Die Grablegung von S.Ägidien (Abb. 270) ist ihr Meister-
stück. Die voluminöse Dehnkraft des Blockes, die daneben auch in der Steinplastik auftritt, ist
doch von anderer Bedeutung, und ihre Bejahung des Volumens birgt eine neue ,,barocke“ Be-
jahung des Körperlichen.
Der „Rietersche Christus“ von der Brauttüre zu S. Sebald, jetzt im Germ. Mus. (vgl.Anz. d. G. M. 1920, S. 18)
ist 1437 datiert. Im Vergleich aber etwa zu dem Ulmer Schmerzensmanne von 1429 ist er erstaunlich „zurück-
geblieben“. Nur die innere Verschwörung spricht hier in neuem Geiste. Nach Fr. Tr. Schulz ist der Kopf barock
erneuert — man muß dann annehmen, daß er auffallend gut kopiert, ja auch in dieser Gestalt schließlich noch
immer ein Dokument unserer Epoche ist. Die merkwürdige Totalisierung, die gequollene Breite des Kopfes paßt
jedenfalls ausgezeichnet in die dunkle Zeit. Der Verfasser glaubt, dieser (d. h. ihrem frühesten Stadium) auch die
Madonna von der Mohrenapotheke zuschreiben zu dürfen (Germ. Mus., veröffentlicht von Schulz im Anzeiger d.
Germ. Mus. 1922/23). Gewiß steckt eine alte Tradition in ihr —wie auch, ohne Schulzusammenhang, im Rieter-
schen Christus. Aber das Geradwerden der Linien zusammen mit der gewaltigen Dehnkraft der Masse scheint doch
zu bezeugen, daß für ihren Meister der weiche Stil schon gewesen ist. Es ist eine gewisse absichtliche Plumpheit,
doch nicht ohne Größe, darin. Gleiche Voluminosität, aber weit stärkeres Ausgehen auf die neue, vertikal gedachte
Konsonanz, zeigen vier Figuren in S. Lorenz, deren Werkstoff (Stein oder Terrakotta?) der Verfasser nicht ein-
wandfrei feststellen konnte. Sie finden sich an dem letzten südlichen und nördlichen Pfeiler des Mittelschiffes vor
dem Chore. Zwei stehende Diakonen, ein hl. Bischof, und endlich ein sitzender Laurentius. Es ist Bauplastik,
aber anderer Richtung, als die oben besprochene. Das Charakteristische die Schwere und die konsequente Ver-
neinung aller horizontal denkenden Harmonik. Eine große innere Verwandtschaft zu dem Miltenberger Laurentius
(unten S. 312). Manieristische Starre angewendet auf ein wuchtiges Volumen. Nichts in allen diesen Figuren
läßt das ungeheure Wunder des Schlüsselfelderschen Christophorus an S. Sebald erwarten. 1442 ist er datiert,
also fast gleichzeitig mit dem Kaschauerschen Altar. Er ist ihm reichlich ebenbürtig und dabei noch von ganz
anderer Art — eine der überraschendsten Leistungen der gesamten abendländischen Kunst in dieser Zeit. Es gibt
in der Steinplastik nur ein Werk, aber gleich ein roheres, das seiner Form unmittelbar nachzuklingen scheint:
es ist der Christophorus von Heilinghausen (B.A. Stadtamhof, S. 100), tatsächlich eine offenbare Kopie des Nürn-
bergers. Nur eines teilt das mächtige Werk mit den zuletzt genannten Arbeiten: eben wieder das Volumen. Nie-
mand ahnt aus den üblichen Abbildungen, welche Rolle es spielt. Gewiß, die Frontalansicht ist die richtige. Aber
nur, wenn mindestens eine Seitenansicht hinzutritt, ist wenigstens eine Andeutung der rauschenden Macht dieser
Gruppe möglich. Dieser Christophorus ist vielleicht das schönste Werk der „barocken“ Richtung in dieser frühen
Zeit. Woher kam der Meister? Vielleicht gibt eben die hohe Qualität auch einen Fingerzeig. Durch sie gerade
werden wir ja innerhalb Nürnbergs aus der Steinplastik hinausgewiesen — zur Schnitzerei, der wir schon jetzt
erfahrungsgemäß für unsere Epoche die größere Kühnheit zutrauen dürfen. Im gleichzeitigen und im vorher-
gehenden Stile ist nämlich das einzige Ebenbürtige in Nürnberg die Madonna des Sebalduschores. Und in der Tat
— so sehr diese beiden Werke zwei verschiedene Stile repräsentieren, so sehr sind sie durch die Wucht des Tempera-
mentes und die Intensität der Leistung verwandt. Es ist doch gewiß nicht undenkbar, daß der Vollender des
weichen Stiles den großartigsten Durchbruch zum neuen selbst geleistet hätte. Es ist Durchbruch, nicht Reaktion.
Jeder Betrachter von einigem Augensinne wird es nicht schwer haben, Detail für Detail zu vergleichen und jedesmal
festzustellen, daß im Christophorus jeder Zug der Madonna in eine neue Sprache übersetzt ist. Das ist so deutlich,
daß man doch glauben muß, der Meister habe an das Schnitzwerk beständig gedacht — vielleicht wirklich: so
intim, aus so innigster Kenntnis heraus gedacht, wie eben nur der Schöpfer des älteren Werkes selbst es konnte
(man müßte denn an den in der Kunstgeschichte üblichen „kongenialen Bruder“, den Doppelgänger denken).
An zwei Werken einer Stadt (ja einer Kirche) eine so enge Beziehung des persönlichen Ausdrucks! Das eigentüm-
liche innerliche Wogen der Form, das schon in der Madonna merklich an den Panzer der alten Melodik anschlug,
ist im Christophorus nur gleichsam herausgebrandet. Schon in jener ist die packende Diagonalität vorbereitet, die
hier alle alte Symmetrik überbordet. Nun ist eine neue Beredsamkeit der einzelnen Stelle eingetreten. Die Partikel,
in die die alte Einheit zerplatzt scheint, sprechen zunächst viel selbständiger für sich. Aber die Flutkraft der sie
verbindenden Massigkeit war auch in der Madonna. Welche Wandlungen kennen wir von Donatello! Stilgeschicht-
liche Grenzen widersprechen keineswegs der Einheit der Person. Eine gemeinsame Genialität vereinsamt diese
Werke gegen alles übrige der Zeit, gerade in Nürnberg. Der Boden dieser Stadt wird ja gemeinhin noch immer
überschätzt. Das „Nürnbergische“ als solches hat ja gar nicht das echt süddeutsche Leben; es ist oft trocken und
hat viel mitteldeutsches. Der Meister der Tonapostel früher, Veit Stoß später, stehen fremd und plötzlich da,

W. Pinder, Die deutsche Plastik.

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