NIKOLAUS GERHART UND SEINE NÄCHSTEN WIRKUNGEN
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eine Verwechslung sei. Indessen die von Back entdeckte Inschrift am Trierer Bischofsgrabmal nennt (1462) nun
gerade nicola gerardi de leyd. Das spricht für das Herkommen aus der holländischen Stadt; für das Herkommen
— noch nicht für die Geburt. Der gleiche Nikolaus Gerhart heißt später in Wien „von Straßburg“, weil er dort
Bürger gewesen war. Eine schmale Möglichkeit wäre sogar, daß ein Moselfranke Leydener Bürger gewesen sei.
Sehr ausgesprochen holländisch scheint Gerharts Wesen nicht. Neue Forschungen von Clemens Sommer wollen
freilich auch in niederländischer Plastik (Utrecht) Vorformen erkennen. Sicher ist niederländische Malerei voraus-
gesetzt. Gerharts ganzes Wirken aber geht in Deutschland vor sich, und nur Deutschland hat ihm verwandte
Geister zugebracht. Das Geburtsdatum ist unbekannt. Nach generationsgeschichtlichen Parallelen wäre ca. 1430
gut möglich. Wahrscheinlich überblicken wir nichts als das letzte Lebensjahrzehnt. Klebel (Wimmer und Klebel,
Das Grabmal Friedrich III. im Wiener Stefansdom, Wien 1924, S. 37) hat eine richtige Lesung der heute verlorenen
Grabinschrift des Künstlers aus der Liebfrauenkirche von Wiener-Neustadt versucht, die bei Duellius (18. Jahrh.)
in gänzlich verdorbener Form wiedergegeben ist. Diese Lesung besagt, daß der Meister 1473 Pfingsttag vor
Sanktae Katterinae starb. Damit ginge gut zusammen, daß in Wahrheit so wenig Eigenhändiges am Wiener
Grabmal erhalten ist, daß schon die Platte der Kaiserin Eleonora nicht mehr von Gerhart stammt. Wir hätten
ein Todesdatum, nur 6 Jahre nach dem vermutlichen des E. S., nur ein weniges nach den Todesdaten der uns
bekannten Hauptmeister der dunklen Zeit. Aber zu deren Generation gehört Gerhart offenbar nicht mehr. Er
könnte ein früh in sich selbst Verbrannter sein, wie Adrian Brouwer. Glut sprüht genug aus seinen Werken.
Back entdeckte 1913 die Inschrift am Trierer Grabmal des B. Joh. v. Sierck und würdigte als erster das
großartige Werk als Gerhartsche Schöpfung (Münchn. Jahrb. d. bildend. Kunst IX). Von hier aus hat Demmler
(Jahrb. d. Preuß. Kunstsammlg. 1921, S. 20ff.) eine Madonna des Trierer Domkreuzganges mit schöner Engel-
konsole angeschlossen. 1464 folgte der plastische Schmuck des Kanzleigebäudes von Straßburg. 2 Büsten („Graf
Hanau Lichtenberg“ und „Bärbele“ genannt) aus rotem Sandstein gingen 1870 beim Bibliothekbrand zugrunde.
Abgüsse im Frauenhause erhielten ihre Form. Der Kopf des Mannes wurde von Back im Hanauer Museum entdeckt
und dem Straßburger überlassen (Münchn. Jahrb. 1919). Aus dem gleichen Jahre das Busang-Epitaph in der
Johanneskapeile des Straßburger Münsters. Die stilistische Zugehörigkeit zu Gerhart, zuerst durch Bruck, dann
durch A. R. Maier in der einzigen, leider sehr fehlerreichen, aber durch das Urkundliche wertvollen Monographie
des Meisters (Straßburg 1910) ausgesprochen, ist niemals angefochten worden. Es ist möglich, daß sich die Buch-
staben nvl. als Signatur bestätigen. 1467 spricht eine Konstanzer Urkunde von der besonders gut ausgeführten
Altartafel des Münsters. Nikolaus hat also auch geschnitzt (das Werk selbst ging im Bilderstürme verloren).
Von der Ausarbeitung des Chorgestühles wurde der Meister entbunden. Im gleichen Jahre der Badener Kruzifixus.
Am Sockel ein Wappenschild mit der Inschrift Nikolaus von Leyen 1467. Dies ist auch das Jahr, in dem Kaiser
Friedrich III. seinen schon 1463 ausgesprochenen Wunsch bei der Stadt Straßburg durchsetzte, den Künstler für
sich zu gewinnen.
1469 ist Gerhart in Passau bezeugt, und es beginnt die Tragödie des Grabmals für Friedrich III. Nur die
Platte hat Nikolaus gefertigt. Das mit ungewöhnlicher Ausdehnung des Gesamtprogramms angelegte Monument
wurde erst unter Maximilian um 1513 fertig (Meister Michel Tichter). Das ist das Gerüst. Was ist fest beglaubigt ?
Nur der Sierck von 1462, die Straßburger Büsten von 1464, der Badener Kruzifixus von 1467, das Kaiser-Grab
von 1467 an. Keine Daten von Werken außerhalb der 60er Jahre, ein Lebensende wahrscheinlich bald nach
diesen. 2 Grabmäler, 2 Büsten, 1 Kruzifixus; alles andere ist Kombination. Aber schon jedes der sicheren
Werke hat zündend gewirkt. Das Trierer Grabmal hatte, nur ein Menschenalter früher, im Moselgebiet einen
wohl ebenbürtigen Vorgänger: den Trierer Bischof von Wetterstein in St. Castor zu Coblenz. Aber es war ver-
blüffend neu in der Verbindung westlicher Naturgläubigkeit mit sicherem Stilgefühl. Von der Wiener Platte sind
Wirkungen wohl doch auf das Neustädter Grabmal der Kaiserin Eleonore, außerdem auf Stoß vor allem, ausge-
gangen. Die Halbfiguren von der Straßburger Kanzlei haben eine noch weit tiefere und weiter reichende Fort-
zeugungskraft bewiesen: Ein ganzes Geschlecht von Büsten ist von da ausgegangen. Und wenn wir noch das
stilistisch absolut gesicherte Epitaph von 1464 dazu nehmen, das eine Reihe oberrheinischer Madonnen-Reliefs
mitbeeinflußt hat, so sehen wir eine ganze Kultur der Büste von unserem Meister ausstrahlen, wie einst (in Kon-
solenform) von den Parlern. Ebenso ist derTypus des Badener Kruzifixus von außerordentlicher Bedeutung. Ohne
ihn wäre jener des Nördlinger Altars nicht möglich gewesen und kaum die stärksten des Veit Stoß — nicht zu
reden von oberrheinischen Nachfolgern in Maulbronn, Molsheim, Kolmar, Offenburg.
Das ist eine Andeutung der nächsten Erfolge Gerharts. Für uns ist das entscheidende der innere Charakter
des Stiles, den er bringt. Allzu einseitig wird oft der für Deutschland neue Grad des Naturgefühls betont. Aber
es sind zwei Seelen in Nikolaus, und sie eben machen ihn so erstaunlich reich und wirksam: eine ruhig beobachtende,
überraschend fein und weich Natureindrücke auffangend, damit zuständlich sehend — und eine enorm bewegliche,
W. Pinder, Die deutsche Plastik. 24
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eine Verwechslung sei. Indessen die von Back entdeckte Inschrift am Trierer Bischofsgrabmal nennt (1462) nun
gerade nicola gerardi de leyd. Das spricht für das Herkommen aus der holländischen Stadt; für das Herkommen
— noch nicht für die Geburt. Der gleiche Nikolaus Gerhart heißt später in Wien „von Straßburg“, weil er dort
Bürger gewesen war. Eine schmale Möglichkeit wäre sogar, daß ein Moselfranke Leydener Bürger gewesen sei.
Sehr ausgesprochen holländisch scheint Gerharts Wesen nicht. Neue Forschungen von Clemens Sommer wollen
freilich auch in niederländischer Plastik (Utrecht) Vorformen erkennen. Sicher ist niederländische Malerei voraus-
gesetzt. Gerharts ganzes Wirken aber geht in Deutschland vor sich, und nur Deutschland hat ihm verwandte
Geister zugebracht. Das Geburtsdatum ist unbekannt. Nach generationsgeschichtlichen Parallelen wäre ca. 1430
gut möglich. Wahrscheinlich überblicken wir nichts als das letzte Lebensjahrzehnt. Klebel (Wimmer und Klebel,
Das Grabmal Friedrich III. im Wiener Stefansdom, Wien 1924, S. 37) hat eine richtige Lesung der heute verlorenen
Grabinschrift des Künstlers aus der Liebfrauenkirche von Wiener-Neustadt versucht, die bei Duellius (18. Jahrh.)
in gänzlich verdorbener Form wiedergegeben ist. Diese Lesung besagt, daß der Meister 1473 Pfingsttag vor
Sanktae Katterinae starb. Damit ginge gut zusammen, daß in Wahrheit so wenig Eigenhändiges am Wiener
Grabmal erhalten ist, daß schon die Platte der Kaiserin Eleonora nicht mehr von Gerhart stammt. Wir hätten
ein Todesdatum, nur 6 Jahre nach dem vermutlichen des E. S., nur ein weniges nach den Todesdaten der uns
bekannten Hauptmeister der dunklen Zeit. Aber zu deren Generation gehört Gerhart offenbar nicht mehr. Er
könnte ein früh in sich selbst Verbrannter sein, wie Adrian Brouwer. Glut sprüht genug aus seinen Werken.
Back entdeckte 1913 die Inschrift am Trierer Grabmal des B. Joh. v. Sierck und würdigte als erster das
großartige Werk als Gerhartsche Schöpfung (Münchn. Jahrb. d. bildend. Kunst IX). Von hier aus hat Demmler
(Jahrb. d. Preuß. Kunstsammlg. 1921, S. 20ff.) eine Madonna des Trierer Domkreuzganges mit schöner Engel-
konsole angeschlossen. 1464 folgte der plastische Schmuck des Kanzleigebäudes von Straßburg. 2 Büsten („Graf
Hanau Lichtenberg“ und „Bärbele“ genannt) aus rotem Sandstein gingen 1870 beim Bibliothekbrand zugrunde.
Abgüsse im Frauenhause erhielten ihre Form. Der Kopf des Mannes wurde von Back im Hanauer Museum entdeckt
und dem Straßburger überlassen (Münchn. Jahrb. 1919). Aus dem gleichen Jahre das Busang-Epitaph in der
Johanneskapeile des Straßburger Münsters. Die stilistische Zugehörigkeit zu Gerhart, zuerst durch Bruck, dann
durch A. R. Maier in der einzigen, leider sehr fehlerreichen, aber durch das Urkundliche wertvollen Monographie
des Meisters (Straßburg 1910) ausgesprochen, ist niemals angefochten worden. Es ist möglich, daß sich die Buch-
staben nvl. als Signatur bestätigen. 1467 spricht eine Konstanzer Urkunde von der besonders gut ausgeführten
Altartafel des Münsters. Nikolaus hat also auch geschnitzt (das Werk selbst ging im Bilderstürme verloren).
Von der Ausarbeitung des Chorgestühles wurde der Meister entbunden. Im gleichen Jahre der Badener Kruzifixus.
Am Sockel ein Wappenschild mit der Inschrift Nikolaus von Leyen 1467. Dies ist auch das Jahr, in dem Kaiser
Friedrich III. seinen schon 1463 ausgesprochenen Wunsch bei der Stadt Straßburg durchsetzte, den Künstler für
sich zu gewinnen.
1469 ist Gerhart in Passau bezeugt, und es beginnt die Tragödie des Grabmals für Friedrich III. Nur die
Platte hat Nikolaus gefertigt. Das mit ungewöhnlicher Ausdehnung des Gesamtprogramms angelegte Monument
wurde erst unter Maximilian um 1513 fertig (Meister Michel Tichter). Das ist das Gerüst. Was ist fest beglaubigt ?
Nur der Sierck von 1462, die Straßburger Büsten von 1464, der Badener Kruzifixus von 1467, das Kaiser-Grab
von 1467 an. Keine Daten von Werken außerhalb der 60er Jahre, ein Lebensende wahrscheinlich bald nach
diesen. 2 Grabmäler, 2 Büsten, 1 Kruzifixus; alles andere ist Kombination. Aber schon jedes der sicheren
Werke hat zündend gewirkt. Das Trierer Grabmal hatte, nur ein Menschenalter früher, im Moselgebiet einen
wohl ebenbürtigen Vorgänger: den Trierer Bischof von Wetterstein in St. Castor zu Coblenz. Aber es war ver-
blüffend neu in der Verbindung westlicher Naturgläubigkeit mit sicherem Stilgefühl. Von der Wiener Platte sind
Wirkungen wohl doch auf das Neustädter Grabmal der Kaiserin Eleonore, außerdem auf Stoß vor allem, ausge-
gangen. Die Halbfiguren von der Straßburger Kanzlei haben eine noch weit tiefere und weiter reichende Fort-
zeugungskraft bewiesen: Ein ganzes Geschlecht von Büsten ist von da ausgegangen. Und wenn wir noch das
stilistisch absolut gesicherte Epitaph von 1464 dazu nehmen, das eine Reihe oberrheinischer Madonnen-Reliefs
mitbeeinflußt hat, so sehen wir eine ganze Kultur der Büste von unserem Meister ausstrahlen, wie einst (in Kon-
solenform) von den Parlern. Ebenso ist derTypus des Badener Kruzifixus von außerordentlicher Bedeutung. Ohne
ihn wäre jener des Nördlinger Altars nicht möglich gewesen und kaum die stärksten des Veit Stoß — nicht zu
reden von oberrheinischen Nachfolgern in Maulbronn, Molsheim, Kolmar, Offenburg.
Das ist eine Andeutung der nächsten Erfolge Gerharts. Für uns ist das entscheidende der innere Charakter
des Stiles, den er bringt. Allzu einseitig wird oft der für Deutschland neue Grad des Naturgefühls betont. Aber
es sind zwei Seelen in Nikolaus, und sie eben machen ihn so erstaunlich reich und wirksam: eine ruhig beobachtende,
überraschend fein und weich Natureindrücke auffangend, damit zuständlich sehend — und eine enorm bewegliche,
W. Pinder, Die deutsche Plastik. 24