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Breternitz, Patrick; Universität zu Köln [Mitarb.]
Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter (Band 12): Königtum und Recht nach dem Dynastiewechsel: das Königskapitular Pippins des Jüngeren — Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.74404#0189
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188

5. Rechtspflege

sein. Dieser Auffassung stehen stärker interpretierende Übersetzungen der Stelle
gegenüber. Claudio Azzara und Stefano Gasparri haben in ihrer italienischen
Übersetzung der Leges Langobardorum an dieser Stelle allein das zweite et als
„oder" aufgefasst.164 Doch steht dieser Auffassung von einer Gegenüberstellung
der ersten beiden Punkte auf der einen und des drittens Punktes auf der anderen
Seite entgegen, dass die drei Punkte sprachlich gleichwertig nebeneinander
stehen.165
Dieser Kritikpunkt ist auch an der deutschen Übersetzung von Franz Beyerle
anzumerken, der allein das zweite et als „um" übersetzte und sich damit noch
mehr vom lateinischen Original löste.166 Diesen drei Ausschlusskriterien stellt
Ratchis' eine einzige Möglichkeit gegenüber, wann eine Beschwerde beim König
möglich sei, und zwar, wie bereits erwähnt, wenn der Beschwerdeführer iusti-
tiam non receperit. Auch hier stellt sich wie zuvor bei den fränkischen Quellen die
Frage, was der Beschwerdeführer nicht erhalten hat, und zwar entweder über-
haupt kein Urteil (Justizverweigerung) oder kein gerechtes/ richtiges Urteil
(Falschurteil). Die dritte Bedingung für eine ungerechtfertigte Beschwerde
spricht für Ersteres. Wenn in diesem Kapitel iustitiam recipere „Gerechtigkeit
erhalten" oder „ein gerechtes/ richtiges Urteil erhalten" bedeuten sollte, stellt
sich schließlich die Frage, worüber sich jemand post suam iustitiam receptam
überhaupt noch beim König beschweren sollte. Aber iustitiam recipere gilt eben
nicht nur für die Partei, die gewinnt, sondern für beide streitenden Parteien.167
Sieger und Verlierer haben nach Abschluss des Verfahrens vor dem Richter
Gerechtigkeit erhalten (iustitiam recipere). Das Urteil des Richters nicht anzu-
nehmen und den König anzurufen oder das Urteil irgendwann nach dem Ge-
richtsverfahren nicht mehr akzeptieren zu wollen und den König anzurufen,
wird bestraft. Das Urteil des Richters und der Ausgang der Gerichtsverfahren
können explizit nicht in einem neuen Verfahren beim König überprüft werden.
Vielmehr darf der König allein angegangen werden, wenn der Richter nicht tätig
wird und der Beschwerdeführer deshalb nicht iustitiam recipere kann.
Kapitel 2 von Ratchis' Gesetzen handelt also nicht von der sogenannten
Urteilsschelte oder einem Rechtszug, sondern legt lediglich fest, dass eine Be-
schwerde beim König nur im Fall der Justizverweigerung des Richters möglich

164 Vgl. Azzara — Gasparri, Leggi, S. 261:„Se perö qualche arimanno o qualche altro uomo non si reca
prima dal suo giudice e non ottiene il giudizio del suo giudice, [oppure anche] dopo aver
ottenuto la sua giustizia in questo modo viene da noi a reclamare, paghi a quel giudice una
composizione di 50 solidi." Eckige Klammer im Zitat von Azzara und Gasparri selbst.

165 Demjenigen, der für die Ausformulierung des Kapitels verantwortlich war, war es durchaus
möglich, klar eine Alternative zum Ausdruck zu bringen (herimannus aut quislibet homo).

166 Vgl. Beyerle, Gesetze, S. 339: „Geht aber ein Heermann oder irgend jemand nicht erst einmal den
eigenen Richter an, und hat er [gar] nicht [erst] von seinem Richter sich ein Urteil geholt, um nach
erlangtem Recht sich dergestalt mit seiner Beschwerde an Uns zu wenden: der büßt seinem
Richter mit 50 Schillingen." Eckige Klammer im Zitat von Beyerle selbst. Nach der Edition von
Bluhme bietet keine Handschrift an der Stelle die Lesung ut. Beyele konjiziert in seiner zwei-
sprachigen Ausgabe auch nicht an der Stelle.

167 Zum Bedeutungsspektrum der Wendung iustitiam recipere vgl. Krause, Anschauungen, S. 18f.
 
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