Die Gründung der Abtei Reichenau
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rend der letzten Regierungen merowingischer Teil-
könige die zusammenfassenden Kräfte des Abend-
landes erlahmt, die örtlichen Mächte dagegen im
Aufstieg begriffen waren. In Alemanmen so gut
wie in Bayern oder in Aquitanien gab es land-
schaftliche Herrschaftsbildungen, die dem Zuge
nach Zusammenfassung des römisch-fränkischen
Staats- und Kirchenwesens widerstrebten. In der
ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts, als die Ale-
mannen ihr zuerst in halbheidnischer Zeit auf-
gezeichnetes Volksrecht als eine durchaus christ-
liche lex Alamannorum erneuerten, da geschah das
unter ihrem eigenen Herzog Lantfrid, anschei-
nend ohne Ablehnung, aber auch ohne Mitwir-
kung des Frankenkönigs. Das Verhältnis dieses
Herzogs zu den Franken blieb unsicher. In seinem
Herzogtum scheint er wohl befestigt gewesen zu
sein. Die Kirche konnte unter der Ordnung der
Verhältnisse nur gewinnen. Bistümer, Pfarrkirchen
und Klöster erscheinen in der lex als geheiligte
und befriedete Einrichtungen. Der Kirche dienten
auch nach altrömischer wie nach fränkischer Sitte
Hörige in gewiesenen Leistungen und freie Pre-
kanenmhaber, d. h. Bebauer ihrer ursprünglich
eigenen, aber der Kirche dargebrachten oder erst
von der Kirche erbetenen Höfe mit bemessenen
Abgaben. Anscheinend sahen Herzog und Grafen
das Anwachsen der Kirchenleute nicht eben gern;
indessen machten sie nach dem Maße ihrer Kirch-
lichkeit, ihres Schuldbewußtseins und Sühnebe-
dürfnisses doch zumeist ihren Frieden mit den
heiligen Stätten der Fürbitte und der Absolution.
Die heidnischen Reste sind aus Sitten und An-
schauungen noch lange nicht verschwunden, aber
dies fränkisch-alemannische Volk hielt sich um
das Jahr 700 für christlich.
Das etwa ist der Hintergrund, von dem sich die
Gründung des Klosters Reichenau im
Jahre 724 durch den Abt und Bischof
P irminiu s abhebt.
Wir wissen von dieser Gründung selbst ziemlich
genau und sicher Bescheid, obwohl die Über-
lieferung auf den ersten Blick fast verzweifelt ge-
nannt werden dürfte. Keine alte, gut erhaltene Rei-
chenauer Annalistik, keine Gründungsgeschichte
des Klosters, wie an so vielen anderen Stellen;
noch weniger eine alte Reichenauer Lebensbe-
schreibung Pirmins. Keine Briefe, keine alten In-
schriften, keine Reliquien des Stifters an dieser
Stätte seines Wirkens. Keine alten, guten Urkun-
den von Kaisern und Päpsten oder von Privaten
an das Kloster. Statt dessen, vielfach erst recht
irreführend, nur eine junge Vita Pirminii aus dem
weit entfernten Kloster Hornbach in der Pfalz,
wo Pirmin später gewirkt hatte, gestorben und bei-
gesetzt ist, sowie einige Schriften von ihm ohne
eine sichere örtliche oder zeitliche Beziehung auf
die Gegend am Bodensee und die Jahre der Klo-
stergründung. Statt echter Pergamente ein Haufen
heilloser Fälschungen aus dem 12. Jahrhundert,
em verschwindender Rest unzweifelhafter und un-
verfälschter Originale; die annahstischen Auf-
zeichnungen nur in jüngeren Handschriften und
versetzt mit jungem und fremdem Material, meist
mcht-reichenauischer Überlieferung. In den Toten-
büchern em paar tote Namen.
Indessen bleibt auch bei so trostloser Überliefe-
rung die Möglichkeit, unter vollkommenster Aus-
nutzung aller kritischen Hilfsmittel doch das Wich-
tigste einigermaßen einwandfrei festzustellen, ja
es scheint, daß die ungünstigen Quellenverhält-
nisse im allgemeinen der historischen Wahrheit
wenigstens insofern besonders dienstbar sind, als
sie zur größten Behutsamkeit und Sauberkeit der
Arbeit erziehen. In der Tat ist es gelungen, die in
zahlreichen Verarbeitungen und Fortsetzungen ver-
breiteten Schwäbischen Annalen auf eine ver-
lorene Reichenauer Geschichtschreibung zurück-
zuführen; weiter, unter Verzicht auf die jüngeren
Lebensbeschreibungen Pirmins, doch aus seinen
Schriften Anhaltspunkte zu gewinnen für die
geistigen und kirchlichen Zustände, die er
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rend der letzten Regierungen merowingischer Teil-
könige die zusammenfassenden Kräfte des Abend-
landes erlahmt, die örtlichen Mächte dagegen im
Aufstieg begriffen waren. In Alemanmen so gut
wie in Bayern oder in Aquitanien gab es land-
schaftliche Herrschaftsbildungen, die dem Zuge
nach Zusammenfassung des römisch-fränkischen
Staats- und Kirchenwesens widerstrebten. In der
ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts, als die Ale-
mannen ihr zuerst in halbheidnischer Zeit auf-
gezeichnetes Volksrecht als eine durchaus christ-
liche lex Alamannorum erneuerten, da geschah das
unter ihrem eigenen Herzog Lantfrid, anschei-
nend ohne Ablehnung, aber auch ohne Mitwir-
kung des Frankenkönigs. Das Verhältnis dieses
Herzogs zu den Franken blieb unsicher. In seinem
Herzogtum scheint er wohl befestigt gewesen zu
sein. Die Kirche konnte unter der Ordnung der
Verhältnisse nur gewinnen. Bistümer, Pfarrkirchen
und Klöster erscheinen in der lex als geheiligte
und befriedete Einrichtungen. Der Kirche dienten
auch nach altrömischer wie nach fränkischer Sitte
Hörige in gewiesenen Leistungen und freie Pre-
kanenmhaber, d. h. Bebauer ihrer ursprünglich
eigenen, aber der Kirche dargebrachten oder erst
von der Kirche erbetenen Höfe mit bemessenen
Abgaben. Anscheinend sahen Herzog und Grafen
das Anwachsen der Kirchenleute nicht eben gern;
indessen machten sie nach dem Maße ihrer Kirch-
lichkeit, ihres Schuldbewußtseins und Sühnebe-
dürfnisses doch zumeist ihren Frieden mit den
heiligen Stätten der Fürbitte und der Absolution.
Die heidnischen Reste sind aus Sitten und An-
schauungen noch lange nicht verschwunden, aber
dies fränkisch-alemannische Volk hielt sich um
das Jahr 700 für christlich.
Das etwa ist der Hintergrund, von dem sich die
Gründung des Klosters Reichenau im
Jahre 724 durch den Abt und Bischof
P irminiu s abhebt.
Wir wissen von dieser Gründung selbst ziemlich
genau und sicher Bescheid, obwohl die Über-
lieferung auf den ersten Blick fast verzweifelt ge-
nannt werden dürfte. Keine alte, gut erhaltene Rei-
chenauer Annalistik, keine Gründungsgeschichte
des Klosters, wie an so vielen anderen Stellen;
noch weniger eine alte Reichenauer Lebensbe-
schreibung Pirmins. Keine Briefe, keine alten In-
schriften, keine Reliquien des Stifters an dieser
Stätte seines Wirkens. Keine alten, guten Urkun-
den von Kaisern und Päpsten oder von Privaten
an das Kloster. Statt dessen, vielfach erst recht
irreführend, nur eine junge Vita Pirminii aus dem
weit entfernten Kloster Hornbach in der Pfalz,
wo Pirmin später gewirkt hatte, gestorben und bei-
gesetzt ist, sowie einige Schriften von ihm ohne
eine sichere örtliche oder zeitliche Beziehung auf
die Gegend am Bodensee und die Jahre der Klo-
stergründung. Statt echter Pergamente ein Haufen
heilloser Fälschungen aus dem 12. Jahrhundert,
em verschwindender Rest unzweifelhafter und un-
verfälschter Originale; die annahstischen Auf-
zeichnungen nur in jüngeren Handschriften und
versetzt mit jungem und fremdem Material, meist
mcht-reichenauischer Überlieferung. In den Toten-
büchern em paar tote Namen.
Indessen bleibt auch bei so trostloser Überliefe-
rung die Möglichkeit, unter vollkommenster Aus-
nutzung aller kritischen Hilfsmittel doch das Wich-
tigste einigermaßen einwandfrei festzustellen, ja
es scheint, daß die ungünstigen Quellenverhält-
nisse im allgemeinen der historischen Wahrheit
wenigstens insofern besonders dienstbar sind, als
sie zur größten Behutsamkeit und Sauberkeit der
Arbeit erziehen. In der Tat ist es gelungen, die in
zahlreichen Verarbeitungen und Fortsetzungen ver-
breiteten Schwäbischen Annalen auf eine ver-
lorene Reichenauer Geschichtschreibung zurück-
zuführen; weiter, unter Verzicht auf die jüngeren
Lebensbeschreibungen Pirmins, doch aus seinen
Schriften Anhaltspunkte zu gewinnen für die
geistigen und kirchlichen Zustände, die er