Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Physiognomie von Marseille.

31

Marseille, die erste Handelsstadt Frankreichs, am Mittelmeer in
seiner Bedeutung für den südlichen und östlichen Verkehr nur von Triest
siegreich bekämpft, macht, wenn irgend eine Stadt in Frankreich, den
Eindruck unmittelbarster Gegenwart, eines thätigen, aber auch in die-
ser Thätigkeit ganz aufgegangenen Lebens. Welcher Menschenverkehr
in den Straßen, wie rollen die Omnibus — es ist Sonntag Vormit-
tag — angefüllt die großen, breiten Straßen, so zur Porte de Nome
hinaus! Ueberall sind die Kaffeehäuser gefüllt, auf und nieder wan-
delt es auf dem Grand Cours und der Cannebiere. Zwar ist Altstadt
und Neustadt auf das schärfste geschieden, aber jene scheint nur ihr
Alter in enge Gassen, schmutzige Wohnungen, oft wahre Höhlen der
Armuth und Verwilderung zu setzen; nur die größere Zahl dunkler
Klostermauern und Kirchen, unter denen aber keine an Größe und
Baustil hervortritt, kündigt uns hier eine Vergangenheit an. Und
diese, die Neustadt, hat allerdings gerade, breite, regelmäßig sich schnei-
dende Straßen, unter denen die bergangehenden als verschiedene Ca-
laden (unser „Stieg") mit Zahlen bezeichnet werden, man ist wohl be-
dacht, schattige Alleen anzupflanzen und so gleichsam mit mehreren
Boulevards die Stadt zu umgürten, aber nirgendwo zeigt sich ein Bau,
ein Palast, wie wir ihn in Genua oder Venedig als Zeugniß alten,
mercantilen Reichthums finden, nirgendwo großartige öffentliche Ge-
bäude, selbst die Börse, dieses pulsirende Herz der Stadt, muß sich
noch mit einem provisorischen Bau begnügen, obgleich sich nicht Ein-
mal, sondern zu verschiedenen Tagesstunden das Geschäftsleben nach
seinen verschiedenen Branchen des Oels, des Getreides, der Colonial-
waaren hier eoneentrirt. Kein hoher Glockenthurm, keine Kuppel hebt
sich aus der Masse empor. Die einzige öffentliche Statue, die ich ge-
sehen, war ein heiliger Bischof, in Gyps eilfertig gegossen und bronzirt,
um der neuen kaiserlichen Hoheit vor der kleinen Kathedrale einen Will-
komm zu bieten und dieselbe der kaiserlichen Freigebigkeit zu empfehlen.
Sie selbst, hart an dem äußeren Hafen gelegen, zeigt sehr
alte Theile, so die halbrunde Apsis, die achteckige, auf drei concentri-
schen Absätzen sich erhebende enge Kuppel der Vieruug, die halbrun-
den, glatten Gurtbogen, welche auf Randpilaster aufsetzen. Aber wie
ärmlich und öde erscheint der Chor und das Schiff! Kaum die nöthigen
 
Annotationen