Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Vöge, Wilhelm; Panofsky, Erwin [Bearb.]
Bildhauer des Mittelalters: gesammelte Studien — Berlin, 1958

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31190#0037
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen, Bd. XX, 1899, S. 117-124

1

Ein deutscher<Schnitzer des 10. Jahrhunderts

Unter den Erwerbungen, die fiir die Berliner Sammlung von Elfenbeinen in letzter Zeit
gemacht sind, erregt ein Werk aus der Spätzeit des X. Jahrhunderts mit thronendem
Christus und Evangelisten besonderes Interesse. Es ist kein Mirakel der Technik, die
Anordnung ist wenig geschickt; Übelgelaunte werden sagen, daß es durch seine Häßlich-
keit auffalle. Doch es gehört innerlich zu uns; es wiirde unser sein, auch wenn wir es
nicht besäßen1.

Wenn man die Geschichte der deutschen Kunst einmal unter dem Gesichtswinkel des
specifisch Deutschen darstellen wird, dürfte die Berliner Tafel nicht unerwähnt bleiben.
Sie ist von den wenigen Sachen der Frühzeit, die eine unverfälschte deutsche Sprache
reden und sozusagen in derber deutscher Mundart geschrieben sind. Sie hat die deutsche
Rauheit und Tiefe, und der deutsche Eigensinn ist darin. Man wundert sich, mit welcher
Er.ergie sich das hier ausspricht zu einer Zeit, wo die bildende Kunst als ein ausländisches
Gewächs künstlich an den Höfen gepflegt und gezogen wurde, und wenige über ein timi-
des Nachahmen gleißender Muster hinausgekommen sind. Man wollte sich in fremden
Flitter kleiden, alten Glanz auffrischen. Doch hier begegnet eine Kunst, die auch dem
Volke etwas sein und sagen möchte, die gar zu gern auf eigenen Füßen stände.

Zu dem wunderlichen Christuskopf (Abb. 1) mit dem dichten Haarkranz hat sichtlich
irgend ein byzantinisches Vorbild die Anregung gegeben (vergl. Abb. z)2; doch der
Meister transponierte es ins Bäurische. Es ist eine Mischung entstanden, die von un-
gefähr russisch berührt. Das schlecht gescheitelte, mühsam geglättete Haar umrahmt ein
derbes viereckiges Gesicht von niedriger Stirn und starken Backenknochen; der Bart ist
mit barbarischer Zierlichkeit geordnet; die Nase ist unschön, breit auseinander gehend,
es scheint, etwas eingedrückt3. Doch die großen wässerigen Augen sind voll Ausdruck,
die geschlossenen Lippen sprechend; plumpe Extremitäten deuten auf niedrige Abkunft
und harte Arbeit.

Was bei den Evangelisten mehr noch als die naturalistische Formengebung fesselt, ist die
Wahrheit des Mimischen. Sie sind im Augenblick der Inspiration dargestellt. Aber wäh-

1 Das Elfenbein, das als Geschenk eines Londoner Gönners in das Berliner Museum kam, be-
fand sich früher in der Sammlung des Konsuls Karl Becker in Frankfurt a. M., vergl. den Katalog
vom Mai 1898, Nr. 59, S. 11 (Abb.). Offenbar hat es eine Handschrift der vier Evangelien ge-
schmückt; die Bohrungen befinden sich merkwürdigerweise mitten auf der Platte; zu vergleichen
hierfür die unten abgebildete Tafel des Cluny-Museums mit Apostel Paulus. Maße der Ber-
liner Tafel: H. 0,21, Br. 0,124.

2 Nach einem Elfenbein des Münchener Nationalmuseums.

3 Sie war jedenfalls von derselben Bildung wie die des Markus.
 
Annotationen