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Vöge, Wilhelm; Panofsky, Erwin [Bearb.]
Bildhauer des Mittelalters: gesammelte Studien — Berlin, 1958

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https://doi.org/10.11588/diglit.31190#0096
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6o

Vortrag in der kunstgeschichtlichen Gesellschaft in Berlin,
ordentl. Sitzung am Freitag, dem 11. März 1904. Sitzungsbericht III, 1904, S. 13—16

Oer Visitatiomeister und die Reimser Plastik
des l^.Jahrhunderts

In der Reimser Kathedrale, deren Schöpfer nach den neuesten Forschungen von Gonse
und besonders Demaison Johann von Orbais gewesen ist, fand der gotische Außenbau
die klassische Lösung. Mehr der plastische als der berechnende Geist war hier zu Hause,
fiir konstruiertes, geometrisches Schmuckwerk weniger Sinn: kein Blenden mit immer
neuen Erfindungen im Maßwerk der Fenster u. a. m.; dafiir plastisches Figurenwerk bis
oben hinauf. — Bei äußerer Fiille innerer Reichtum; vieles hinausreichend iiber das, was
man als gotische Sphaere abgesteckt zu haben wähnt; die Frische der Beobachtung zumal
in den Masken; das Reimser Schönheitsideal; unter den Köpfen an der westlichen Innen-
wand einzelnes, was französische Biisteneindriicke des 17.—x8. Jahrhunderts voraus-
nimmt.

Fiir die Ausspinnung des plastischen Schmuckes iiber den ganzen Bau hat die Kathedrale
von Laon wichtige Anregungen gegeben, wie iiberhaupt fiir die Reimser Außenarchi-
tektur. Die Idee zu der feinfühligen Belebung der Streben unterhalb der Statuengehäuse
stammt aus Laon, auch die zu den bekrönenden Riesen; so mag auch der Gedanke zu den
Statuengehäusen selbst dem Reimser Meister in Laon aufgegangen sein, angesichts der
Laoner Chorpartie, die kurz vor dem Reimser Baubeginn (im Jahre 1212) aufgefiihrt ist.
Laon gab auch den Impuls zur Anbringung der Masken an den Fensterbogen, zu den
Atlanten unter den Verkröpfungen des Dachgesimses, auch zu dem Loggienmotiv an den
Querhausfronten. In Laon hat sich, wie einzelne noch erhaltene Spuren zeigen (der Bal-
dachin des Abraham) am Westportal wahrscheinlich derselbe Prophetencyklus mit Sta-
tuengruppen befunden, den die ältesten Reimser Portalstatuen geben. Doch ist Reims
hier nicht von Laon, sondern von Chartres abhängig, das aber seinerseits auf Laon zu-
rückgegriffen hatte. (Andre Prophetenportale mit Statuengruppen in Saint-Bénoit-sur-
Loire, Senlis, Maestricht, Trier, das âlteste Beispiel, Sankt-Bénoit-sur-Loire, weist im Stil
auf Saint-Denis (Königsstatuen des Nordtransepts), mit dem auch Senlis Beziehun-
gen hat) [vgl. die Abbildungen des vorigen Aufsatzes].

Die von Laon, Chartres usw. kommenden Anregungen werden in Reims in neuem Geiste
verarbeitet; das Fremde geht auf im Reimsischen. Man kann bei einem einzelnen Meister
(dem des Beau-Dieu am Nordtransept) das schrittweise Herauswachsen aus der Char-
treser Art verfolgen.

Das Eigentiimliche der Reimser Skulptur ist in ihren spezifisch-plastischen Eigenschaften
zu suchen, soweit hiervon im 13. Jahrhundert die Rede sein kann. In Reims war eine
minder herrische Architektur, und so befreit sich die Plastik, sich bewegend wie im
»rührt euch«, sich voller ausrundend. — Es bildet sich das Motiv des Spielbeins aus; schon
an den früheren Engeln der Chorkapellen wird das des vorgestellten Fußes mit einer
 
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