Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Vöge, Wilhelm; Panofsky, Erwin [Bearb.]
Bildhauer des Mittelalters: gesammelte Studien — Berlin, 1958

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31190#0090
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
54

Vortrag in der kunstgeschichtlichen Gesellschaft in Berlin,
ordentl. Sitzung am Freitag, demg. Mürziçoô. SitzungsberichtIII,igo6,S. 15—18

Oas Westportal der Kathedrale von Stnlis und der
plastische Stil am Ende des 12. Jahrhunderts

In der altfranzösischen Plastik haben die einzelnen Stilperioden und in denselben wieder
einzelne Schulen ihre Lieblingsthemata. So bringt die archaische Schule (seit 1135) an
ihren zahlreichen Portalen fast stets denselben Stoffkreis. In den späteren Jahrzehnten
des XII. Jahrhunderts tritt eine jiingere Schule auf den Plan, deren Stil den Uebergang
darstellt zur freieren Kunst der klassischen Zeit (in der 1. Hälfte des XIII. Jahrh.); sie
zeigt nicht nur das Ringen nach Befreiung der Formen, sie bringt auch neue Stoffe. Das
Charakteristische ist, daß nun die Marienszenen an den Portalen aufkommen, die Grab-
legung, Himmelfahrt und Krönung der Madonna verbunden mit einem Zyklus von Pro-
phetenstatuen; so zuerst am Westportal von Senlis (Abb. x). Diese neuen Stoffe bleiben
noch im XIII. Jahrhundert beliebt und zwar in ganz ähnlicher Auffassung. Dies allein
ist schon ein Beweis fiir den engen Zusammenhang der Uebergangskunst mit der
klassischen.

Doch das XIII. Jahrhundert, das den plastischen Schmuck iiber ganze Fassadenbreiten
ausdehnte, konnte mit den Marienszenen und Propheten allein nicht auskommen, man
brauchte mehrere Zyklen; beliebt wird neben jenen vor allem der Zyklus der Apostel-
statuen in Verbindung mit dem Jiingsten Gericht auf dem Tympanon.

Sehr merkwiirdig ist nun auch in dieser Zeit noch das Zusammengehen des Ikonographi-
schen mit dem Stilistischen. Stellt man die Hauptfassaden zusammen, an denen das
Apostelthema vorherrscht, andererseits die, an denen das Prophetenthema den Ton an-
gibt, so scheidet man damit zugleich die zwei großenStilströme, die sich in der klassischen
Zeit noch erkennen lassen. Das Prophetenthema herrscht (oder herrscht vor) in Laon,
Chartres-Nordhaus (vgl. S. 64 Abb. x) und Reims; von kleineren Zentren wie Beauvais
und denen jenseits der französischen Grenze abgesehen. Laon ist aber auch der Formen-
sprache nach der Ausgangspunkt der Kunst am Chartreser Nordtransept und Reims hat
sowohl mit Laon als mit Chartres nahe Werkstattbeziehungen.

Offenbar waren die Werkstattzusammenhänge oft wichtiger fiir die Gestaltung der
grossen Zyklen als die Programme der Geistlichen, die Initiative der Meister oft wichtiger
als der Wunsch der Auftraggeber.

Was nun die Stilströmung angeht, welche an den Prophetenportalen herrscht, so hat sich
an ihnen die gotische Plastik zuerst zu jener Schönheitslinie bekannt, die man gern als
die gotische im allgemeinen bezeichnet, zur Kurve; wir haben hier schon — mit den
Mitteln der Friihgotik — jenes Schwelgen in Rundungen, das noch an der spätesten so
auffällt. Und auch die ältesten, noch ins XII. Jahrhundert gehörenden Prophetenportale
von Senlis, Mantes (Abb. 2), St.-Benoit-sur-Loire (Abb. 3) gehören dieser Richtung zu;
insbesondere bedeutet das Westportal von Senlis, wenn sich auch die ersten Ansätze
 
Annotationen