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Vöge, Wilhelm; Panofsky, Erwin [Bearb.]
Bildhauer des Mittelalters: gesammelte Studien — Berlin, 1958

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https://doi.org/10.11588/diglit.31190#0146
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Allgemeine Zeitung, Miinchen, Beilage zu Nr. 172 vom 30. ]uli îgoz, S. 201-204

T)ie Kathedrale von TÄmiens

Monographie de l'église Notre-Dame, cathédrale d'Amiens par Georges Durand, ar-
chiviste de la Somme. T. I. Historie et description de Tédifice. Amiens-Paris, Picard, Rue
Bonaparte 82. 1901; gr. 40, mit 48 Tafeln.

I.

Zu streiten, welcher unter den Kathedralen ersten Ranges der Preis zu geben sei, wäre
müßig, wie der Streit um bedeutende Menschen. Die mittelalterlichen Bauten sind eigen
komplizierte Organismen. Mit höchsten Vorzügen sind hier oft kleine Schwächen un-
lösbar verbunden, wie man von großen Menschen sagen kann, daß sie die Fehler ihrer
Tugenden zu haben pflegen. Die Vorzüge anderseits liegen oft nach verschiedenen
Seiten.

Unendlich lehrreiche Beispiele hiefür bieten aus der klassischen Zeit des 13. Jahrhunderts
die Bauten von Reims und Amiens. Denn niemals wohl hat eine Stilperiode auf der-
selben Stufe ihrer Entwicklung für im Grunde die gleiche Aufgabe zwei wesensverschie-
denere Lösungen gegeben.

Es steckt in diesen zwei Bauten ein ganz verschiedenes Menschentum, in dem Reimser
ein Streben nach machtvoller Monumentalität, nach Größe und Ruhe, in dem von
Amiens eine elastische Kraft, eine muskulöse Schlankheit, die mit der Last zu spielen
scheint. In Reims haben die Mauern, die Pfeiler, selbst die Gewölbe etwas Gewaltiges,
unter denen von Amiens »atmet man mit Entzücken« (Viollet-le-Duc). Sicherlich war
Robert de Luzarches, der große Schöpfer des Amienser Planes und Schiffes, der genialere
Konstrukteur. Durch eine kühne Vervollkommnung des gotischen Strebesystems, eine
Minderung des Druckes mittelst zahlreicher, dem Auge verborgener Entlastungsbogen
ist eine Steigerung der Raumverhältnisse über alles bis dahin Erreichte hinaus zuwege
gebracht, sind bei größerer Leichtigkeit der Stützen größere Abstände derselben ge-
wonnen, ohne daß die Sicherheit des Ganzen beeinträchtigt wäre1. Das gotische Streben
nach weiten, luft- und lichtdurchströmten Innenräumen fand hier seinen klassischen
Ausdruck.

Aber es wäre kurzsichtig, jenen Gegensatz nur aus einem verschiedenen Maß an tech-
nischem Können zu erklären. Verrät sich doch in Reims auch an den Portalen mit ihren
riesenhaften Tympanen über eigentümlich niedrigem Sockel (Nordtransept), in der

1 Der schwache Punkt des Systems liegt in der Vierung, Durand a. a. O., S. 225.
 
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