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Vöge, Wilhelm; Panofsky, Erwin [Bearb.]
Bildhauer des Mittelalters: gesammelte Studien — Berlin, 1958

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https://doi.org/10.11588/diglit.31190#0080
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Das Museum (Spemann), Jg. VII, 1902, S. 25-28

Zur frühgotisàien Plastik Frankreichs

Als das Merkzeichen der gotischen Plastik (gegenüber der älteren romanischen Kunst)
gilt ihre fröhliche Hingabe an das Leben, ihre feinfühligere Obacht auf Außen- und Um-
welt, von der bescheidensten Pflanze bis zum gerngroßen Sichgehaben der ritterlichen
Gesellschaft. Wirklich stellt das immer fortschreitende Studium der Natur die eine Seite
ihres Wesens dar. Jenes geht zunächst mehr auf das Allgemeine in Form, Bewegung und
Ausdruck: es langt schließlich an beim Individuellen (vgl. S. 155 Abb. xo). Es sucht das
Jugendliche, Feine, Liebenswiirdige auf, nicht das Androhende, aber es hat auch einen
Blick für das Absonderliche; einen lachenden zumeist. Doch darf man sagen, daß die
Gotik gerade in der Grimasse am meisten Tiefe habe.

Den Gradmesser fiir das Naturgefühl gewährt, wie in späteren Jahrhunderten wohl die
Landschaft, so hier das begleitende Blätter- und Rankenwerk. Seit etwa xi6o glaubt man
es wie ein Zuströmen frischen, jugendlichen Saftes zu spüren; ein feines Verständnis fiir
die Zartheit — die sanftere Welle — im organischen Leben spricht nun aus Kunstformen,
die im einzelnen der Natur oft garnicht abgesehen, vielmehr aufgespeicherten Schätzen
uralter Ueberlieferungen entnommen sind. Auch hier langt man — wie im Faltenwerk
der Gewandung, in den Köpfen der Figuren — nach etwa zwei Menschenaltern bei einer
eingehenderen Nachbildung der Naturform an.

Ueberraschend ist die Wendung zum Lebensvollen in der Erfindung. An den Laibungen
der Portale z. B., die damals wie schon früher mit Kränzen von Statuetten bedeckt sind,
war es üblich, den innersten Ring mit Engeln zu schmücken, die den göttlichen Personen
auf demTympanon adorierend sich zuwenden. Man stellt sie meist einfach iibereinander.
Am Pariser Hauptportal dagegen (Anfang des 13. Jahrhunderts) schließen sie sich wie
zu einem Reigen zusammen; sie erscheinen hier in Brustbildern, auf den (das Tympanon
umrahmenden) Rundstab mit den Händchen sich aufstiitzend, mit den Aermchen sich
legend, wie neugierige Kinder: die nachdenklicher, die dreister, die selig staunend, der
Huldigung vergessend über fröhlichem Entziicken. Es ist eine Vermenschlichung eines
alten Themas, wie man sie eher der Friihrenaissance zumutete.

Das Streben nach dem Lebensvollen ist aber nur die eine Seite der Bewegung; es ver-
bindet sich mit dem anderen nach monumentaler Festigung und Klärung der Formen-
sprache. Ja, weniger im Naturalismus als in der stilbildenden Kraft liegt die große ge-
schichtliche Bedeutung des gotischen Phänomens.

Um zu begreifen, wie Frankreich hier gleichsam mit Notwendigkeit den übrigen Ländern
den Vorsprung abgewann, indem es zu festen Normen eines eigentümlichen »modernen«
Stiles hindurchdrang, während man überall fast den älteren (antikbyzantinischen) Tra-
ditionen sich hilflos gegenüberfand, erwäge man sowohl die damalige allgemeine Lage
 
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