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Vöge, Wilhelm; Panofsky, Erwin [Bearb.]
Bildhauer des Mittelalters: gesammelte Studien — Berlin, 1958

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https://doi.org/10.11588/diglit.31190#0081
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Zur frühgotischen Plastik Frankreichs

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l. Chartres, Kathedrale. Tympanon des mittleren Westportales

der Künste wie die Eigenart des französischen Genies: Es fehlte (vom Crucifixus und
Madonnenbilde abgesehen) an freiplastischen Aufgaben. Mit dem Zusammenbruch der
antiken Welt kam auch ihr Wahrzeichen, die Bildsäule, ab. Der Riickgang der plastischen
Begabung, das mangelnde Verständnis der jungen Völker trafen hier mit religiösen Be-
denken, besonders des judenchristlichen, abbilderfeindlichen Orients zusammen. In den
Schriftquellen des ersten Jahrtausends ist oft von Gemälden, auch von Tafelbildern die
Rede, selten von statuarischen Werken. Wo sie vorkommen, sind es wohl Werke nicht
der Bildhauerei, sondern der Goldschmiedekunst. Die Plastik wird also — mehr noch als
die Malerei — abhängig, dienend, dekorativ; sie lebte fort vor allem im Schmuck des
Kirchengebäudes, seiner inneren Einrichtung wie seines Geräts.

Aller große Aufschwung mußte daher zunächst an den der kirchlichen Baukunst ge-
bunden bleiben.

Hier fand nun die unvergleichliche Begabung der Franzosen fiir das Dekorative die ihr
konforme Aufgabe. Während wir in anderen Ländern (Italien, Deutschland) schon friih
Versuche wahrnehmen, die Plastik dem Bauwerk gegeniiber gleichsam auf die eigenen
Fiiße zu stellen, drängte der französische Genius instinktiv gerade nach innigerer Verbin-
dung der verschiedenen Kiinste im Sinne einer berauschenden Gesamtwirkung. Man setzt
das Figiirliche in unmittelbaren Kontakt mit dem architektonischen Geriist (die Säulen-
statue),man bringt ein feineres Gefiihl fiir das Ab-und Zusammenstimmen allerTeile mit,
als irgendwo sonst. Die Folge ist eine Durchdringung der Plastik mit architektonischen
Gesetzen und Geiste, sozusagen eine Verschmelzung von Natur- und Bauform, von
 
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