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Vöge, Wilhelm; Panofsky, Erwin [Bearb.]
Bildhauer des Mittelalters: gesammelte Studien — Berlin, 1958

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https://doi.org/10.11588/diglit.31190#0082
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Das Musemn (Spemann), ]g. VII, igoz

natürlicher Bewegung und architektonischer Linie. Die Welt7 die man schafft, gehört also
nicht dem Leben und der Straße (wie die Donatellos), sondern einem Zwischenreich.
Charakteristisch ist am Anfange der nordfranzösischen Bewegung die außerordentliche
Strenge der Stilisierung (vgl. S. 41 Abb. 2), es ist jugendliche Schroffheit, deren Trumpf
das Extreme ist; es ist Kampfkunst, ein Protest jenen älteren süd- und ostfranzösischen
Schulen gegeniiber (Abb. 2), die in einem Taumel von Bewegung und Gebärde, von
spielerischem Linienschwung in Gefahr waren, alle Formgesetze einzubiißen. Die säulen-
haft starren, kanellierten Chartreser Figuren erinnern etwa an die Werke des griechi-
schen Archaismus; sie haben mit diesen auch die ciselierende, iiberaus feine Ausfiihrung
gemein. Dennoch, bei äußerlicher Aehnlichkeit, welch ein Unterschied! Der griechische
Archaismus ist eben bei aller Gebundenheit doch Freiskulptur; man glaubt hier in der
Fesselung schon die Kraft der schimmernden Glieder zu spiiren. — Den Gegensatz gegen-
iiber den bewegten Sachen der Languedoc zeigen — minder schroff — auch die nordfran-
zösischen Reliefs. Wie klar sind in Chartres (Abb. 1) die Figuren auseinandergehalten;
in Moissac (Abb. 2) umringen die vier Symbole und Engel den Christus wie im Wirbel
(man verfolge die Linie der sechs Köpfe), sie schieben sich iibereinander; der Kopf
Christi tritt neben dem zu dicht herandrängenden (und zu großen!) des Adlers nicht
genug hervor; nach der zu flachen, segnend erhobenen Rechten muß man erst suchen!
In Chartres ist der Arm ähnlich angehoben, doch der Unterarm biegt sich wieder heran,
während die Hand nach außen weist: es ist also eine rhythmische Bewegung, dem Zwecke
dienend, das Motiv herauszuheben und zugleich den Rand der Mandorla dem Blicke frei-
zulegen. Die Chartreser Gestalt hat mehr Balance; der ausladenden Bewegung des einen
Armes ist in der des anderen ein Gegengewicht gegeben. Was also das nordfranzösische
Werk auszeichnet, ist der Sinn fiir Klarheit der Komposition, fiir Fernwirkung, wenn
man will, ist Maß und Rhythmik der Bewegung, die sorgfältige Riicksicht auf die Rein-
heit des architektonischen Umrisses (vgl. die Fliigel der »Tiere «), wobei jedoch Rand und
Rahmen ohne alles Ornament bleiben (!); ist der Sinn fiir strenge Faltenfiihrung, ein
ruhiges Zusammengehen der Faltenzüge (gegeniiber den Ueberschneidungen, dem Auf-
wogen der Säume in Moissac) ; ist endlich auch die Monumentalität des Relief charakters,
die plastische Tendenz, welche die Hauptfigur schon halb statuarisch giebt.

In Moissac teilt sich die Bewegtheit sogar dem architektonischen Aufbau mit. Die Thiir-
pfosten, obwohl mit einer Säule geschmiickt, sind ausgebogt wie ein ausgeschnitzeltes
Holz (etwas Aehnliches, wenn wir in der verwandten, doch mehr auf undulierende Linien
ausgehenden burgundischen Schule gewundenen, gedrehten Säulen begegnen). DerThiir-
pfeiler mit seinen über Kreuz gestellten, aufeinandergetürmten Löwenpaaren ist gleich-
falls voll Ueberschneidungen, Unruhe und Zickzack. In Chartres strömte umgekehrt der
strenge Geist des statisch-konstruktiven Aufbaus in die Reliefs, ganz besonders dann
in die Statuen ein. — Natürlich hängen diese Gegensätze ein wenig mit der Verschieden-
heit älterer Ueberlieferungen hiiben und driiben zusammen. Aber was kommt auf diese
an, wo wir ein so klares Sichauswirken einer neuen Aesthetik zu einem originalen Stile
haben, daß man sagen kann, jeder einzelne Zug in Haltung, Bewegung und Form ist
durch das lebendige, das neue Stilgefiihl eingegeben.

Die weitere Entwicklung brachte das Aufbliihen der knospenhaften Chartreser Kunst
(herrschend etwa von ca. 1140 bis ca. 1170) zur Größe des Klassischen. Die Statue vor
allem streift das Säulenhafte allmählich ab. Auch in den Reliefs (Abb. 3 zeigt das etwa
 
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