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Vöge, Wilhelm; Panofsky, Erwin [Bearb.]
Bildhauer des Mittelalters: gesammelte Studien — Berlin, 1958

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https://doi.org/10.11588/diglit.31190#0098
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Ó2

Kunstgeschichtliche Gesellschaft in Berlin, Sitzungsbericht III, 1904

kritik hat auch architektonisches Nebenwerk wie die Baldachinsockel ins Auge zu fassen.
Eine überraschende Bestätigung fiir den Zusammenhang der genannten Werke bietet
ferner eine der Königsstatuen oben am Südhaus in Höhe der südlichen Rose. Diese Figur
läßt (als ein Zwischenglied) die Verwandtschaft des Marientyps und jener Chorengel-
köpfe deutlich ins Licht treten; zugleich ist sie durch ihre Gewandbehandlung dem Odys-
seusköpfigen Propheten ganz nahe.

Was den Visitatio-Meister charakterisiert, ist zugleich das kühne Aufgreifen der neuen
Bewegungsmotive, bei denen der ganze Körper ins Spiel kommt, wie das Aufblühen der
Gestalt zu klassischer Fülle. Auch hier jenes merkwürdige Loswollen von der Säule: bei
der Maria wie bei dem Nicasiusengel wird zwischen dem Schaft und der Gestalt durch-
gebrochen; ein Rundbild will werden.

Antike Eindrücke haben mitgespielt; doch bejaht sich in der mächtigen Körperbildung
im Grunde nur das überall auf das Mächtige gehende, Reimser Kunstwollen. Auch im
einzelnen ist in den Visitatiofiguren viel Unantikes, z. B. im Madonnenkopf das robuste
Betonen der Backenknochen, das hohe Ansteigen der Brauen, die Schrägstellung der
Augen und die Flachheit und darum geringe Verschattung der Partie zwischen Braue und
Auge, auch das leichtgepreßte der Mundwinkel. In der Antike selten ist auch ein so
weiches Niedergleiten der Falten zum Boden, wie das Ausscheiden senkrecht nieder-
stoßender Partieen aus der Gewandung.

Wunderfeine Spiegelungen der Stimmung im Gewandzeug bei Maria und Elisabeth,
doch auch bei den übrigen Figuren, zeigten, daß es sich hier um Schöpfungen handelt,
die ganz und ungeteilt aus der Künstlerseele hervorgegangen sind. Das Gebundene der
mittelalterlichen Konzeption sucht dieser Meister abzustreifen, daher auch die eigen-
artige, technische Herstellung der Figuren aus mehreren, der Höhe nach zusammen-
gelegten Blöcken (die Vertikalfuge bei der Elisabeth von der linken Schulter bis tief zu
den herabhängenden Mantelfalten reichend, bei der Maria vom linken Unterarm aus-
gehend; auch der Odysseusköpfige zeigt dieselbe Art der Stückung).

Jene Zusammenhänge der Fassadenstatuen mit denen an den Chorkappellen geben auch
die Lösung des Datierungsproblems an die Hand. Es ist unmöglich die Visitatiogruppe
erst um 1260 anzusetzen, wie Demaison tut; denn die Chorkapellen sind mit die ältesten
Teile des ganzen Baues; daß die sie schmückenden großen Engel in den Zwickeln zwi-
schen den Fenstern gleichzeitig mit der Architektur entstanden sind, läßt sich aber deut-
lich genug wahrnehmen. Für die Visitatiogruppe kommen am ehesten das Ende der 20er
oder der Anfang der 30er Jahre in Frage.

Diese Statuen nehmen zusammen mit einer zweiten Statuengruppe an den Westportalen,
die von Amiens her beeinflußt ist (zu ihr gehören die Madonna der Verkündigung, die
der Darstellung im Tempel, der Simeon, der David, der Nicasius) eine Mittelstufe ein
zwischen den jüngsten Statuen die aus der Zeit der Aufrichtung der Fassade stammen
und den noch ganz altertümlichen charakteristisch beeinflußten Propheten ganz rechts
am rechten Portale. Das bestätigen mit auffallender Deutlichkeit die an den Portalskulp-
turen angebrachten, bisher nicht beachteten Versatzzeichen. Sie sind an den uns be-
schäftigenden Statuen ganz in der Weise angegeben, wie an den friiheren Propheten-
figuren, nämlich unmittelbar am Körper der Figur selbst, während die jüngsten Statuen
ausnahmslos eine andere Art der Anbringung haben.
 
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