Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

DOI Artikel:
Habicht, Victor Curt: Neue Ziele der Kunstgeschichte
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0076
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
72 BEMERKUNGEN.

nistischen Charakter der Kunstgeschichtsschreibung an einem Beispiel, dessen Wert
so wenig wie der wohl selbst gewandelte Autor irgendwie bemäkelt werden sollten,
aufzuweisen. Daß sie der kaum noch überhörbaren Forderung nach innerem Er-
leben, restlosem Erschließen des göttlich Treibenden, des Eigentlichen, nicht ent-
sprechen, ist nicht zu bezweifeln.

Wir haben dieser Forderung Sinn bereits gewiesen durch ihren Einschluß in das
Seinserlebnis überhaupt. Die Folgerungen für die Wissenschaft müssen noch ge-
zogen werden und nach Anhören des seitherigen Standpunktes wird sich das er-
leichtern.

Wir sehen in der Form eine Brücke. Genauste Beachtung und Erforschung
der Form wird, wie seither, Ziel bleiben. Seither aber blieb man im verstandes-
mäßigen Nachkonstruieren der Form stehen, am Ende der Brücke wurde gewisser-
maßen kehrt gemacht und das nachempfundene und selbst aufgebaute Gebilde be-
staunt. Das gesuchte Land jedoch liegt jenseits der Brücke. Durch die Form mit
einem Blicke alle metaphysischen Gründe, allen Sinn und das Letzte, erschließen,
ist uns — Europäern — nicht gegeben.

Seien wir bescheiden und begnügen uns mit »Wissenschaft«. Hat die Kunst
nicht ein ästhetisches Ziel allein, ist ihre Form nicht Selbstzweck, so hilft nichts als
Forschen, die »komplizierte Konstellation« zu durchdringen. Unsere Wissenschaft
hat sich nicht gescheut, und es hat sich ihr reichlich gelohnt, historische Forschungen
zu treiben; Quellenstudien, Quellenkritik, Urkundenforschung usw. anzustellen. Es
soll gewiß nicht wieder in Werken über Kunst das Wort Kunst nicht vorkommen
und von allem möglichen Gelehrtenkram, aber von künstlerischen Werten wenig die
Rede sein. Aber ebenso gewiß muß es ausgeschlossen bleiben, daß nicht alles ver-
sucht bleibt, in den Geist der Entstehungszeit der Kunstwerke, d. h. doch in den
schöpferischen Urboden, so tief wie möglich einzudringen. Gewiß sind kulturelle,
geistesgeschichtliche Parallelen und Vergleiche zwecklose Verbrämungen — und es
ist sicher nicht aufgegeben, in einem Buche über die Sondergotik etwa eine Parallel-
schilderung der Mystik oder Scholastik zu bieten. Aber sträflich ist es, an allen er-
regenden, geistbestimmenden Erscheinungen der Zeit, d. h. hier, um nur einiges zu
nennen, an dem Sekten- und Ketzerwesen, den freigeistigen Strömungen, den So-
zialideologien hochkommunistischer und tiefreligiöser und grausamst verfolgter Art,
den Bürgerkämpfen, den Geißlern, dem werdenden Welt- und Seinsgefühl der Bür-
ger vorüberzugehen. Allein — alles dieses wäre auch nur ein Anfang, es müßte
die Färbung, die zeitlich und örtlich wechselnde, ja wenn möglich die psychische
Disposition des schöpferischen Einzelmenschen, des Einzelkunstwerks bis ins
Letzte bloßgelegt werden. Dann fielen die Hüllen, die Wegsperren, alles Äußer-
liche. Dann erst wäre zu sagen, was wirklich gewollt und was erreicht worden ist.

Die vergangene, ganz und gar materialistisch-impressionistische Kunstgeschichte
krankte aber noch an einer schlimmen Überhebung. So unverhüllt sie es aussprach,
daß ihr Kunst nur eine Angelegenheit des Auges und der Form sei, so selbstbewußt
dünkte sie sich im Grunde über alle Wissenschaft erhaben. Sie glaubte im Ab-
spiegeln und rationalistischen Zergliedern dieser Seheindrücke selbst künstlerisch-
schöpferisch zu sein. Das impressionistische Part pour Vart gab den Verführer.
Wissenschaft ist dienende Magd, und je demütiger, umso besser. Um so hingeben-
der und offener dem zu erschließenden schöpferischen Geiste, umso reiner, umso
näher der Wahrheit. Unsere Wissenschaft, die sich göttergleich der Kunst eben-
bürtig dünkte, muß wieder Ehrfurcht lernen, Dienste leisten, arbeiten, vor dem ferne
funkelnden göttlichen Kerne, dem tiefgeheimen, des Kunstwerks in Ehrfurcht knien
und keine Mühe, Last und Schuttarbeit scheuen, alle Hüllen zu durchbeißen, die
 
Annotationen