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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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88 BESPRECHUNGEN.

Ernst Bergmann, Das Leben und die Wunder Johann Winckelmanns-
8°. 36 S. München, C. H. Beck, 1920.
»Die Wunder Johann Winckelmanns« — das ist der Ausdruck eines tiefen,
übermächtigen Gefühls, von dem der große Kunstforscher selbst ergriffen war, des
Gefühls des frohen Erstaunens über die wechselvollen Schicksale, die ihm so reichen
inneren Ertrag gebracht hatten, und wer diese Schicksale mit ihren Folgewirkungen
kennt, der begreift auch, wie der verdiente Leipziger Ästhetiker Ernst Bergmann
nicht irgend eine der Schriften Winckelmanns, sondern dessen Leben zum Gegenstand
einer monographischen Skizze machen konnte. Den Philosophen, der in die Natur
des Schönen und das innerste Wesen des Schönheitsgenusses eindringen will, inter-
essiert in der Tat das Leben des merkwürdigen Mannes, iu welchem Schönheit und
Kunst eine so große Rolle gespielt haben, weit mehr als die dürftigen Beiträge zu
einer Ästhetik, die sich etwa aus Winckelmanns literarischen Erzeugnissen mühsam
herausfischen lassen. Denn obschon ein wichtiger Kunstbegriff nach ihm getauft
ist, kann man doch mit Grund die Frage auf werfen, ob die Theorie des Schönen
als solche eine wesentliche unmittelbare Förderung durch den Schriftsteller erfahren
hat, der in der Kunstbetrachtung höchste Beseligung fand und sich aus qualvoller
Enge befreit, ja erst zu wahrem Leben erweckt fühlte, nachdem ihm die Welt der
antiken Schönheit aufgegangen war. Die Durchführung jenes fest mit dem Namen
Winckelmann verknüpften Stil begriff es, der insbesondere dem Rumohrschen Stil-
begriffe gegenübergestellt wird, war etwas, das sich — natürlich eine gewisse ästhe-
tische Feinfühligkeit vorausgesetzt, die aber mit der Fähigkeit zu philosophisch-
ästhetischen Untersuchungen nicht das mindeste zu tun hat, — durch rein historische
Forschung leisten ließ und tatsächlich nur auf dem Wege solcher Forschung geleistet
wurde. Eine höhere philosophische Bedeutung gewann die Konzeption erst dadurch,
daß sie eben im Gegensatze zu anderen Stilbegriffen herausgearbeitet oder einer
klargefaßten universelleren Idee eingefügt wurde, und hiezu finden sich bei Winckel-
mann auch nicht die bescheidensten Anläufe. Aber selbst, wenn dem anders wäre,
wenn Winckelmann wirklich einen umfassenden Stilbegriff ausgebildet und in die
einzelnen Besonderungen hinein verfolgt hätte, wie es von Meistern der modernen
Ästhetik, namentlich von Fechner und Volkelt, geschehen ist, so wäre mit diesen
Distinktionen des National-, Zeit-, technischen, Materialstils, der Stilunterschiede, die
sich aus dem Grade der Entfernung von der Wirklichkeit, aus dem mehr typisierenden
oder individualisierenden Gepräge, aus dem Vorwiegen der Tendenz zur Vergröberuhg
und Vulgarisierung oder umgekehrt zur Erhöhung und Sublimierung des Gegen-
standes ergeben, — mit alledem, sage ich, wären die eigentlich letzten Prinzipien
der Ästhetik gar nicht berührt. An die Kernfragen, die Fragen, ob man vom Schönen
ohne Rücksicht auf die Gefühle, die es auslöst, reden könne, ob und inwieweit also
ein objektiver, metaphysischer Schönheitsbegriff möglich sei oder ob man sich mit
einem rein subjektiven, psychologischen begnügen müsse, worin in dem letzteren Falle
jenes Verhalten des Subjekts bestehe, durch welches uns das Schöne samt seinem
Gegenteil, dem Häßlichen, gegeben wird, ferner, ob man berechtigt sei, in Sachen
des Kunstgeschmacks Forderungen zu erheben, die Ästhetik mithin auch heute noch
oder vielmehr jetzt wiederum, so, wie es der Ansicht früherer Zeiten entsprach, zu
einer Normwissenschaft auszugestalten und einem Teil ihrer Lehrsätze den impera-
tiven Charakter zn verleihen, — an diese und die anderen Grundfragen wäre der-
jenige nicht einmal herangestreift, der sich bloß rühmen dürfte, einen durchaus zu-
länglichen Stilbegriff entwickelt zu haben. Um derlei Probleme zu lösen oder um
auch nur mit einigem Erfolg an ihrer Lösung mitzuarbeiten, bedurfte es der Ver-
standesklarheit eines Hutcheson, der Schärfe und Subtilität eines Hume, der psycho-
 
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