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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Lipps, Theodor: Zur "ästhetischen Mechanik"
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0006

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THEODOR LIPPS.

Nicht als fehlte in diesem scheinbar regellosen Spiel oder diesem
unentwirrbaren Gewebe von Wirkungen bald so bald so gearteter und
gerichteter Kräfte jegliche erkennbare Ordnung. Die Natur zeigt überall
feststehende Gewohnheiten, denen ihre Bildungen sich fügen. Aber
dieselben sind nur allgemeine Gewohnheiten, sie sind nur der Rahmen,
die Basis, das Schema für jenes freie Spiel. Der Eichbaum wächst
nach einer uns vertrauten, bestimmten Gesetzmäßigkeit; nach einer
anderen als der Tannenbaum. Aber dieselbe betrifft nur die Grund-
formen oder den Grundcharakter. Im einzelnen dagegen scheint uns
diese Grundform oder dieser Grundcharakter zufällig, nach bloßer Laune
der Natur so oder so näher bestimmt oder differenziert. Wir haben
kein Bewußtsein einer inneren Notwendigkeit, welche die knorrigen
Auswüchse dieses bestimmten Eichbaumes treibt, an dieser bestimmten
Stelle zu sitzen oder diese bestimmte Größe und Form zu haben.

Anders dagegen verhält es sich mit den künstlichen Formen, etwa
der Form eines Gefäßbauches oder des Wulstes einer Säulenbasis.
Diese sind, weil sie nicht Naturformen sind, auch nicht jenem un-
berechenbaren Spiele der Naturkräfte unterworfen, oder sind nicht ein
Ergebnis derselben, sondern ihre Form ist beherrscht von einer un-
mittelbar einleuchtenden Gesetzmäßigkeit. Wohl entstammen sie den-
selben Kräften, die auch in der Natur wirken. Der Gefäßbauch »steht«
auf seiner Basis und »richtet sich« von derselben auf, wie der Fels oder
der Stamm des Eichbaumes. Und er baucht sich aus oder weitet
sich aus in demselben Sinne, in welchem der Eichbaum an dieser
oder jener Stelle sich ausbaucht oder ausweitet. Kurz, auch die Kräfte,
die in den künstlichen Formen wirken, sind Naturkräfte. Aber die
Naturkräfte, vermöge welcher der Gefäßbauch sich entfaltet und seine
Form gewinnt, sind eben aus der Natur herausgenommen. Wenige
und wohl erkennbare und unterscheidbare Kräfte wirken hier für sich
oder wirken rein sich selbst überlassen. Es ist ein Wirken und weiter-
hin ein Zusammen- und Gegeneinanderwirken, das zu einem Resultat
führt, wie es eben diese wenigen und einfachen und in ihrem Wirken
und ihrem Zusammen- und Gegeneinanderwirken frei sich überlassenen
Kräfte ins Dasein rufen können und ihrer Natur zufolge müssen.
Und wir können unmittelbar verstehen, wieso diese Kräfte diese Form
ins Dasein rufen können und müssen.

Dies Herausnehmen der Naturkräfte aus dem Naturzusammenhange
kann man auch bezeichnen als ein Abstrahieren; nämlich als ein Ab-
strahieren von jenem unberechenbaren Spiel der Naturkräfte, in welches
dieselben in der Natur zu jeder Zeit verwoben sind. Und so können
die Kräfte, welche in den künstlichen oder geometrischen Formen
wirken, den Namen »abstrakter Kräfte« tragen. Und die Künste, die
 
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