DIE AUSDRUCKSKRAFT MUSIKALISCHER MOTIVE.
61
4 J # 0
(beschleunigt)
Auftakt
I i i
0 0 0
(abnehmende
Dehnung)
Endung
£2
Jeröme Joseph de Momigny (1762—1838) hat zuerst erkannt und
mit dem Vollbewußtsein der Aufstellung eines Prinzips von allerhöch-
ster Bedeutung für die musikalische Ästhetik ausgesprochen (in seinem
Cours de compositum, musicale, Paris 1806 und in zahlreichen Artikeln
des 2. Bandes der Musikabteilung der Encyclopedie methodique 1811),
daß die leichte Zeit zunächst durchaus Auftakt zu der folgen-
den schweren ist, und weibliche Endungen (Cadences feminines),
d. h. Rückwärtsbeziehungen der leichten Zeit auf die vorausgehende
schwere, erst in zweiter Linie in Frage kommen und einer besonderen
Motivierung bedürfen. Weder von Rudolf Westphal noch von Mathis
Lussy noch von mir selbst rührt die Lehre von der prinzipiellen
Auftaktsbedeutung der leichten Zeitwerte her, sondern von dem
von seiner Zeit unverstandenen und verlachten Momigny. Er hat
wieder zum Verständnis gebracht, daß das Aufheben (Arsis) und
Niedersetzen (Thesis) des Fußes nur in dieser Folge vernunftgemäß
die Einheit eines Schrittes ergeben (pas; mit Recht ficht er die Sub-
stitution von pied »Fuß« für pas an). Ich habe diese Erkenntnis für
die Begründung der Gesetze des musikalischen Satzbaues nutzbar ge-
macht, indem ich die Alternative Leicht und Schwer allgemein als
Aufstellung und Antwort, als Beziehung eines abschließenden
Zweiten auf ein eröffnendes Erstes definierte und damit die wach-
sende Schlußkraft in höheren Potenzen schwerer Zeitwerte als me-
trische Qualität verständlich machte. Für die figurativen Spaltwerte
verfolgt Momigny bereits selbst die Unterscheidung des Gewichts bis
zur letzten Konsequenz. Daß Momigny neben der regulären Cadence
masculine (J | I), d. h. dem Ende mit der Schwerpunktsnote selbst,
und der Cadence feminine der mesures ä cheval, der rittlings auf den
Taktstrichen aufsitzenden Motive (siehe oben das Schema), auch die
»Cadence veuve« definiert, d. h. volltaktig beginnende Motive als
eigentlich des Auftaktes entbehrende Motive mit weiblicher Endung
betrachtet, sei als wertvolle Ergänzung nicht übersehen.
Damit sind wir wieder bei dem als kleinste geschlossene Einheit,
als Geste, zu verstehenden Einzelmotiv angelangt. Was ich eingangs
meiner Skizze über wirklich gemeinte, lebenerfüllte und tote, gar nicht
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Auftakt
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(abnehmende
Dehnung)
Endung
£2
Jeröme Joseph de Momigny (1762—1838) hat zuerst erkannt und
mit dem Vollbewußtsein der Aufstellung eines Prinzips von allerhöch-
ster Bedeutung für die musikalische Ästhetik ausgesprochen (in seinem
Cours de compositum, musicale, Paris 1806 und in zahlreichen Artikeln
des 2. Bandes der Musikabteilung der Encyclopedie methodique 1811),
daß die leichte Zeit zunächst durchaus Auftakt zu der folgen-
den schweren ist, und weibliche Endungen (Cadences feminines),
d. h. Rückwärtsbeziehungen der leichten Zeit auf die vorausgehende
schwere, erst in zweiter Linie in Frage kommen und einer besonderen
Motivierung bedürfen. Weder von Rudolf Westphal noch von Mathis
Lussy noch von mir selbst rührt die Lehre von der prinzipiellen
Auftaktsbedeutung der leichten Zeitwerte her, sondern von dem
von seiner Zeit unverstandenen und verlachten Momigny. Er hat
wieder zum Verständnis gebracht, daß das Aufheben (Arsis) und
Niedersetzen (Thesis) des Fußes nur in dieser Folge vernunftgemäß
die Einheit eines Schrittes ergeben (pas; mit Recht ficht er die Sub-
stitution von pied »Fuß« für pas an). Ich habe diese Erkenntnis für
die Begründung der Gesetze des musikalischen Satzbaues nutzbar ge-
macht, indem ich die Alternative Leicht und Schwer allgemein als
Aufstellung und Antwort, als Beziehung eines abschließenden
Zweiten auf ein eröffnendes Erstes definierte und damit die wach-
sende Schlußkraft in höheren Potenzen schwerer Zeitwerte als me-
trische Qualität verständlich machte. Für die figurativen Spaltwerte
verfolgt Momigny bereits selbst die Unterscheidung des Gewichts bis
zur letzten Konsequenz. Daß Momigny neben der regulären Cadence
masculine (J | I), d. h. dem Ende mit der Schwerpunktsnote selbst,
und der Cadence feminine der mesures ä cheval, der rittlings auf den
Taktstrichen aufsitzenden Motive (siehe oben das Schema), auch die
»Cadence veuve« definiert, d. h. volltaktig beginnende Motive als
eigentlich des Auftaktes entbehrende Motive mit weiblicher Endung
betrachtet, sei als wertvolle Ergänzung nicht übersehen.
Damit sind wir wieder bei dem als kleinste geschlossene Einheit,
als Geste, zu verstehenden Einzelmotiv angelangt. Was ich eingangs
meiner Skizze über wirklich gemeinte, lebenerfüllte und tote, gar nicht