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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Riemann, Hugo: Die Ausdruckskraft musikalischer Motive
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0066

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HUGO RIEMANN.

in Betracht kommende Intervalle gesagt habe, ist wohl nun, nachdem
wir auch die Frage des Rhythmus und des Zeitgewichts geklärt, in
vollem Umfange verständlich geworden. Eine notwendige Ergänzung
ist nur noch der Hinweis auf die sehr verschieden zu bewertende
Wirkung, welche Pausen für die Ausdruckskraft der Motive haben
können. Pausen zwischen Motiven sind natürlich wirklich nur das, wofür
man gemeinhin alle Pausen hält, nämlich Scheiden, Unterbrechungen.
Die gewöhnlichsten und harmlosesten Pausen sind diejenigen, welche
nach den Endnoten der Motive auftreten und diese handgreiflich von den
Anfangsnoten der folgenden Motive abscheiden. Dagegen wirken
Pausen innerhalb der Motive als negative Äquivalente von
Tongebungen an gleicher Stelle, d. h. also Pausen im Auftakt
wachsen an Tiefe der Pausenwirkung nach dem Schwerpunkte
hin, Pausen statt der Schwerpunktsnote selbst sind ein plötzlicher
Absturz in die Stärkstmögliche Negation u. s. w. Meine »Musikalische
Dynamik und Agogik« (1884) widmet den Pausenwirkungen ein aus-
führliches Kapitel, auf das ich verweisen muß (S. 137ff.); auch §13
(»Pausenlehre«) meines »Systems der musikalischen Rhythmik und
Metrik« (1903) wird mit seiner Beispielsammlung Dienste tun. Wer
Pausen nur als die Motive trennende Lücken kennt, dem entgehen nicht
nur Wirkungen von ergreifender Schönheit, nein er verunstaltet sogar
ungezählte Stellen der Meisterwerke durch grobes Mißverstehen. Innen-
pausen sind freilich uneigentliche, der schlichtesten Natur wider-
sprechende Verwendungen der Mittel in einer gesteigerten Kunsttech-
nik, die noch viel schwerer zu verstehen, d. h. mit der Phantasie zu
durchleben sind als z. B. lange Noten im Auftakt und kurze in den
Endungen. Ebenso wie das Ohr zunächst lange Noten als Endpunkte
zu verstehen neigt, werden stets auch Pausen zunächst leicht als
gliedernde Lücken gefaßt werden. Aber wie man schließlich doch
geschlossene Motive wie diese (Beethoven, Sonate Op. 110, 1. Satz):

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nach ihrer Stellung im Takte (entsprechend den beigeschriebenen dy-
namischen Zeichen) empfinden wird und nicht etwa als:

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so wird und muß es schließlich doch auch gelingen, das schmerzliche
Schluchzen in dem 2. Arioso derselben Sonate mitzuerleben:
 
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