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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Simmel, Georg: Über die dritte Dimension in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0072

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68 GEORG SIMMEL.

Musik verhalten, die auch unzählige Reproduktionen aus allen Lebens-
gebieten in uns weckt, deren ganz einzigartiger Reiz und Tiefe nun
aber darin besteht, daß jene sozusagen zu Musik geworden sind. Sie
begleiten den Gang der Töne nicht mit der mechanischen, etwa nur
dynamisch herabgesetzten, Inhaltsgleichheit ihres ursprünglichen Auf-
tretens, sondern in einer spezifischen Umbildung und Umfärbung: sie
müssen einer allotropischen Modifikation unterliegen, um sich dem
musikalischen Eindruck als dessen Satelliten verbinden zu können, neben
dem sie sonst fremd und einer anderen Ordnung der Dinge angehö-
rend stehen müßten.

So würden die Reminiszenzen anderer Sinne nur als fremdartige
Anhängsel von dem Bildeindruck mitgeschleppt werden, ohne dessen
Sinn zu bereichern und zu vertiefen, wenn sie, gleichsam naturalistisch,
nur ein Nocheinmal ihres früheren Inhaltes wären. Sie müssen viel-
mehr, um in die Einheit des Anschauungskunstwerkes einzugehen,
ihre ursprüngliche Bedeutung, die mit dem Sinne dieses gar nichts zu
tun hat, sozusagen selbst in einen Anschauungswert umsetzen, oder:
ihr ursprüngliches, in ganz andere Reihen verflochtenes Sein so um-
formen, daß es mit dem optisch-artistischen Eindruck eine organische
Einheit eingeht. Diese Expatriierung der Tastgefühle bei ihrer Einbe-
ziehung in die Kunst psychologisch zu beschreiben, ist vorläufig ein
bloßes Postulat. Jedenfalls aber wird man den Vorgang als eine
Qualitätsänderung der Gesichtsvorstellunfv — ebenso wie, in
einer anderen Schicht, der Tastvorstellung selbst — bezeichnen können.
Aus der bloßen Assoziation läßt sich die artistische Bedeutung der
tactile values schon deshalb nicht ableiten, weil dies eine bloße un-
organische und unfruchtbare Quantitätsänderung des inneren Vorganges
wäre. Wenn die Berührungen der Seide ihre Reproduktionen an die
Anschauung des gemalten Stoffes weitergeben, so wird damit diese
Anschauung rein als solche tiefer, lebendiger, ausgreifender. Goethe
hat solche Umsetzung heterogener Sinnesempfindungen in optische
Werte gekannt: »Und durchs Auge schleicht die Kühle sänftigend
ins Herz hinein.« Das Objekt gibt dadurch dem Auge mehr; und
zwar nicht so sehr der Wirklichkeit gegenüber, wo die verschiedenen
Sinne je ihren Sonderwert bewahren, weil sie gleichmäßig zur Realität
des Dinges zusammenwirken — als gegenüber dem Kunstwerk, das
den Inhalt des Dinges auf den Generalnenner des einen Sinnes bringt.
Und so wird es sich auch wohl mit der dritten Dimension verhalten,
die das allen tactile values Gemeinsame repräsentiert. Neben Härte
und Weichheit, Rauheit und Glätte, Zugespitztheit und Ebenmäßigkeit
zeigen die berührten Flächen noch die allgemeine Qualität des Wider-
standes überhaupt, welche der bloßen, auch dem Auge dargebotenen
 
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