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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Poppe, Theodor: Von Form und Formung in der Dichtkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0094

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90 THEODOR POPPE.

gegenseitig bedingend, stützend und fördernd, zusammen zum Zustande-
kommen des ästhetischen Eindruckes und Genusses. Form, Eindruck,
Genuß sind Worte, die ein und denselben Vorgang von verschiede-
nen Seiten berühren. Dieser zweite Fall zeichnet sich vor den ande-
ren dadurch aus, daß hier recht eigentlich die Form am Inhalt und
der Inhalt an der Form entsteht. Die Form genießt hier den psycho-
logischen Vorzug der Erstmaligkeit und daher auch der Einzigartigkeit
und besonderer Frische. Die seelische Verfassung des Genießenden
dem Werke gegenüber ist in den einzelnen Stadien seiner apperzeptiven
Tätigkeit eine andere, als sie bei der ersten und den weiteren Wieder-
holungen des Apperzeptionsvorganges sich ergibt.

3. Diese Wiederholungen der Aufnahme des Kunstwerkes sind nun
im dritten Fall zusammengefaßt. Der Aufnehmende tritt bereits mit
einer Vorstellung von dem aufzunehmenden Werke an dieses heran.
Er wird jetzt in die Lage gesetzt, den ersten Eindruck am zweiten
(und den folgenden) zu kontrollieren, zu berichtigen, zu vertiefen.
Dieser dritte Fall hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ersten: was
dort die innere Form genannt wurde, ist hier die bei der ersten Auf-
nahme erzeugte Vorstellung, sind die Erinnerungsbilder im Geiste
dessen, der jetzt das Kunstwerk und damit seine Form wieder vor
sich entstehen läßt. Diese Ähnlichkeit rechtfertigt freilich noch lange
nicht die Bezeichnung »innere Form« auch für diese Erinnerungsbilder,
was einige zu glauben scheinen. Dieser dritte Fall ist es auch, der
zumeist den theoretischen Erwägungen über die Form des Kunst-
werkes ausgesprochen oder unausgesprochen zu Grunde liegt. Die
Klarheit solcher theoretischer Erwägungen muß aber naturgemäß leiden,
wenn man zwischen den angeführten drei Fällen willkürlich hin und
her schwankt.

4. Als ein vierter und besonderer Fall hat es zu gelten, wenn der
Künstler selbst sich als Aufnehmender zu dem früher geschaffenen
Werke zurückwendet und sich dessen Form wieder gegenwärtig macht.
Dabei mag er vielfach in die peinliche Lage kommen, sein Wollen an
seinem Vollbringen messen zu müssen. Der erste und der dritte Fall
greifen ineinander.

Auf die ästhetische Form im ganzen, ohne die hier vorgenommene
Sonderung, richten sich alle Auseinandersetzungen über Illusion, Ein-
fühlung, Lebendigkeit in der Kunst. Diese Erklärungsprinzipien wollen
die Tatsache treffen, daß beim naiven Kunsterleben Kunstwerk und
Mensch nicht einander gegenüberstehen, sondern in der Phantasie
dieses Menschen ein gemeinsames, zusammengeschmolzenes Leben
führen. Auf die ästhetische Form richten sich insbesondere auch die
Ausführungen von Th. A. Meyer (im Archiv f. System. Philos. NF, Bd. X
 
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