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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0133

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BESPRECHUNGEN. |2Q

bahn des Leidens abgelenkt wurden. Der Krankheitszustand äußert sich bei Nietzsche
in rauschartigen Stimmungen. Das Gift der Paralyse wirkte auf ihn gleich einem
anderen Nervenreizmittel. Und solche Gifte haben durchaus nicht als schädigend zu
gelten, sondern sie können das Genie, das Feuer seines Wirkens, unendlich erhöhen,
die Stabilität des Sinnens und Fühlens freimachen zur lebendig pochenden Labilität.

Schopenhauers sonnige Ideen »über den Wahnsinn« müssen die Ausführungen
des Verfassers sehr befruchtet haben. Indem er sich fragt, »welche Bedeutung kann
ein bestimmter krankhafter Zug bei einem im übrigen seelisch gesunden, schaffenden
Menschen haben?« macht er es sich vollständig in ästhetischen Auslegungen behag-
lich. Jedes Weltphänomen wird von dem wahnsinnigen Genialen erfaßt unter Aus-
schaltung alles dessen, was nicht den genialen Gedankenkreis zur harmonischen Ein-
heit rundet. Der wahnsinnige Geniale übersteigt die engen Horizonte landläufiger
Logik und klimmt zu Anschauungssphären, in die eine gesunde beschränkte Geistes-
kraft sich erst durch langsame Mühsal nacharbeitet. Kurz, dem Tänzerigen im wahn-
sinnigen Genialen wird ein Preis gesungen. Das Büchelchen ist kühn, von »Zara-
thustra« durchtränkt und oft zu gefährlich auf phantastischem Wege jonglierend.

Ein viel matteres Individuum als Bjerre ist der Österreicher Michael Haberlandt.
Den Begriff des Schönen als einer absoluten Konstante will er bekämpfen und den
Kunstgenießenden in seiner subjektiven Energie erst als Schönheitsschöpfer aner-
kennen. Die »Typologie der ästhetischen Person« versucht er zu zeichnen, auf der
einen Seite die hervorbringende, auf der anderen die empfangende. Ästhetisches
Genießen ist im Grunde der durch Gewohnheit an Moral und Gesetze eingewurzelte
Verzicht auf ein Lust reizendes Gut, biologisch ausgedrückt: Die zum Besitzergreifen
eines die Sinne erregenden Gegenstandes fähigen Organe und Instinkte wurden abge-
stumpft oder gar verstümmelt, weil viele solcher Gegenstände ihrem Begehren un-
zugänglich blieben. Der Mangel des Fungierens schwächte aber die Organe und
Instinkte bis zu einem solchen Grad, daß ihr reales Verlangen zu einem im Sinn
gehegten sich abschwächen konnte. Nun wird ein Aufriß der Urtriebe skizziert, die
zu ästhetischen Kräften sich umsetzten. Und was ein fördernder, nicht neuer, aber
hier wieder betonter Forschungsplan sein kann, eine Geschlechterästhetik, eine Be-
rufsästhetik soll das Kunstvermögen der Schaffenden und Genießenden ausmessen.
Der Verfasser wirft die Fragen auf, aber es ist das Schmächtige an seinem Werk,
daß er die Probleme mehr ritzt als in den Grund erschöpft.

Berlin. Max Hochdorf.

Dr. phil. Siegfried Levinstein: Kinderzeichnungen bis zum 14. Lebens-
jahr. Mit Parallelen aus der Urgeschichte, Kulturgeschichte und Völkerkunde.
Dazu 169 Figuren auf 85 Tafeln und 18 Tabellen im Text. Mit einem An-
hang von Dr. phil, LL. D. Karl Lamprecht, kgl. sächs. Geh. Hofrat und
Professor an der Universität Leipzig. R. Voigtländers Verlag in Leipzig, 1905,
Lex. Format, VII, 119 u. XIV S.
Die Bestrebungen, der bildenden Kunst in unserem Erziehungs- und Unterrichts-
wesen eine größere Rolle anzuweisen, sind seit den Hamburger Anfängen der Be-
wegung und der Berliner Ausstellung »Die Kunst im Leben des Kindes« vom Früh-
jahr 1901, die das Problem zuerst weiteren Kreisen ans Herz legte, so viel miß-
verstanden, mißbraucht und zur Prägung leerer Schlagworte ausgenutzt worden,
daß man heute vielfach genötigt ist, Vorsicht zu empfehlen, den Übereifer zu
dämpfen und in der drohenden Verwirrung auf die Gefahren kritiklosen Zugreifens
hinzuweisen. Die erste Voraussetzung für eine vernünftige Entwickelung der neuen

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. I. 9
 
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