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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0135

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BESPRECHUNGEN. 131

Hinzufügung von Körper, Armen und Füßen an den Kopf darstellt; denn der Kopf
gibt auf primitiver Stufe allein oder mit einer unmittelbar daran gehefteten Andeu-
tung der Beine bereits das Porträt einer menschlichen Figur ab. Wie dann langsam
Hals, Kopfhaar und Bart, Augenlider und Augenbrauen hinzutreten, wie der Über-
gang zur Profilzeichnung vor sich geht, wie in wachsendem Maße der Schmuck
(Knöpfe, Hüte, Kleider) beachtet wird u. s. w. Von besonderem Interesse sind die
tabellarischen Aufstellungen über die Zeichnungen nach vorgelesenen Vers- oder
Prosageschichten. So wurden z. B. auf Grund einer Anregung seitens des Verfassers
in den sächsischen Schulen 4945 Zeichnungen von Knaben und Mädchen im Alter
von 6—14 Jahren über die Geschichte vom »Hans Guck-in-die-Luft« aus dem Stru-
welpeter gesammelt, wobei sich mit überraschender Deutlichkeit zeigte, daß sich die
ganze Art der Darstellung in einer bestimmten Richtung entwickelt. Es ist überaus
lehrreich zu verfolgen, wie hier auf eine erste Etappe der »Fragmentbilder«, in
denen die kleinen Kinder lediglich die Personen und Requisiten der Geschichte
neben einander fixierten, ohne auf das Festhalten einer bestimmten Szene auszu-
gehen, ein Stadium der »Erzählungsbilder« folgt, in denen die kleinen Zeichner
sich zu Darstellungen einzelner Ereignisse aus dem Verlauf der Geschichte auf-
schwingen. Nicht minder lehrreich, wie sich die Wahl dieser Ereignisse verteilt,
wie z. B. das Kind in einem instinktiven künstlerischen Drang ganz offenbar die
Katastrophen selbst weniger bevorzugt als die Handlung, die zu ihnen hinführt.
Und überaus bezeichnend ist die zum Nachdenken anregende Tatsache, daß nach
dem elften Jahre nicht nur die Zahl der Erzählungsbilder nicht wächst, sondern
sogar die der Fragmentbilder wieder ein wenig zunimmt — ein trauriger Beweis
für die schon in so zartem Alter sachte nachlassende Naivetät und Freimütigkeit
der zeichnerischen Fähigkeiten.

Es ist unmöglich, den ganzen Reichtum psychologischer Erkenntnis, der in diesen
Tabellen niedergelegt ist, hier auszubreiten. Sie ergeben ein Material, das niemand
mehr außer Acht lassen kann, der sich wissenschaftlich mit dem Seelenleben des
Kindes beschäftigt, das aber auch niemand übersehen darf, der sich die Frage vor-
legt, wie Bilderbücher, Wandbilder für Kinderzimmer und Spielzeugstücke gestaltet,
oder wie der Zeichenunterricht reformiert werden müßte. Denn sie beweisen aufs
neue und mit gesteigerter Eindringlichkeit, daß die Kinder »nach Vorstellungen und
nicht nach Sinneswahrnehmungen zeichnen«. Das Kind gibt die Haare unterm
Hute, den Magen im bekleideten Körper wieder, es versieht den Profilkopf mit
zwei Augen und das Enface-Antlitz mit einer vorspringenden Nase an der Seite.
Es zeichnet also Dinge, die es nicht sieht, sondern die seiner aus Einzelerfahrungen
abstrahierten Vorstellung nach zum Menschen gehören; seine Kunst ist nicht
Naturalismus, sondern ein naiver Idealismus.

Über manche Einzelpunkte zu rechten, die auch im Anschluß an die dankens-
werten und höchst willkommenen Anregungen Levinsteins Zweifel oder Widerspruch
hervorrufen, ist hier nicht der Ort. Nur auf eine Behauptung sei noch kurz ein-
gegangen. Aus der unbezweifelbaren Tatsache, daß die Farbe für Kinder so lange
eine untergeordnete Eigenschaft der Objekte ist, als die Wahrnehmung von deren
Form und Gestalt für die Unterscheidung ausreicht, folgert der Verfasser, daß es für
diese Zeit, also etwa bis zum Beginn des dritten Lebensjahres, »nicht absolut nötig
sei, den Kindern farbige Spielsachen und farbige Bilderbücher zu geben«. Das
scheint mir durchaus falsch zu sein. Denn erstens wäre ja selbst dann, wenn das
Kind in so frühem Alter noch kein Interesse für Farbe hat, eine spielende Anregung
des erst langsam erwachenden Sinnes sehr wichtig. Aber die Erfahrung lehrt über-
dies tausendfach, daß die Kinder auch im ersten und zweiten Jahre eine ganz
 
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