Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

DOI Artikel:
Besprechungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0156

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
152 BESPRECHUNGEN.

sich erst recht keine Daseinsberechtigung. Denn hinzu kommt nun die sachliche
Minderwertigkeit des Patriotismus und der Frömmigkeit, die den Kindern hier im
allgemeinen vorgeführt wird, wofür genügend Beispiele nachzulesen sind. So
sind hier Kräfte lahmzulegen, die zugleich die Geschmacksbildung wie die Cha-
rakterbildung in Fesseln zu schlagen geeignet sind. Dazu ist eine Revolution des
Erziehungswesens notwendig, an deren Durchführung sich jeder Kulturfreund be-
teiligen sollte. In seinen Ansprüchen an das Interesse der Erzieher für die Lektüre
ihrer Zöglinge ist der Verfasser sogar ziemlich bescheiden, wenn er sagt: »Wenn
dies Buch nichts weiter zuwege brächte, als das Ansehen von Gustav Nieritz und
Franz Hoffmann dauernd zu erschüttern, so wollte ich froh sein; denn mir wäre
eine gute Tat gelungen.«

Ich habe den Eindruck, daß hie und da im Eifer des Kampfes für die gute Sache
dem Verfasser viel zu extreme Formulierungen unterlaufen sind. Warum soll es
denn nun durchaus keine spezifische Jugendliteratur geben, oder weshalb soll man
nicht eine Schrift »mit Bedacht der Fassungskraft der Kinder anpassen«? Aber das
Buch ist kein Beitrag zur allgemeinen Kunstwissenschaft, sondern eine pädagogische
Flugschrift von sehr ernstem und praktischem Charakter. Deshalb will ich mich
nicht auf Einzelheiten versteifen, sondern das frisch und mutig geschriebene Buch
als Ganzes nehmen. Was im einzelnen darin auch streitig sein mag, zu dem Ganzen
wird man doch ja oder nein sagen müssen. Das Buch ist dazu angetan, nicht nur
anregend, sondern aufrüttelnd unter den Unzähligen zu wirken, die über einer Frage
von so großer Tragweite eingeschlafen sind, ihrer Verantwortlichkeit für die Bildung
der kommenden Generation vergessend. Aber die Schule wird noch viele Eltern-
generationen ausbilden müssen, bis wir Eltern haben, die ihre Kinder den An-
schauungen des Verfassers entsprechend mit Bewußtsein beeinflussen. Also die
Schule wird anfangen müssen. Und zwar bei den Mädchen; denn es dürfte sich
empfehlen, mit der Tatsache zu rechnen, daß heut die Mütter — mindestens in der
literarischen Erziehung — maßgebend sind. Wie viel da noch zu tun ist, leuchtet
wohl jedem ein, der den unerhörten Tiefstand der literarischen Bildung der heutigen
Mütter, und gerade der wohlhabenderen Kreise, kennt.

Berlin. Walter Franz.
 
Annotationen