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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Spitzer, Hugo: Apollinische und dionysische Kunst, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0225

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APOLLINISCHE UND DIONYSISCHE KUNST. 221

Formen, in welchen zweifellos auch die religiösen Gefühle sich aus-
leben, dennoch in all diese verschiedenen Gestalten ein wirklich iden-
tischer Bestandteil eingeht, ein Abhängigkeits- oder Ehrfurchtsaffekt,
gleichsam als Kern, um den herum sich das ganze übrige Gefühls-
gebilde gruppiert. Und dieser fixe Bestandteil erscheint seinerseits
wieder gebunden an eine gleichfalls festbleibende Vorstellung objektiven
Charakters, die mit der zunächst den Affekt auslösenden Idee in engerem
oder loserem Zusammenhange steht. Wie verschieden sie sich auf
den verschiedenen Stufen des religiösen Bewußtseins darstellen möge,
ob ihr Gegenstand nun menschliche Züge aufweist, ob er nichts als
die allumfassende, in sich selbst ruhende, mit unendlicher Übermacht
jedes Einzelschicksal bestimmende Wirklichkeit ist, auf ein und der-
selben Stufe erscheint dennoch auch diese Vorstellung als wesentlich
identisch und ihre Einheit erlaubt es, die zahlreichen Sonderaffekte,
die sie weckt, wie ein einziges Gefühl zu behandeln. Dies ist um so
einwandfreier, als nach dem Gesagten durch all die religiösen Spezial-
gefühle wirklich der nämliche Grundaffekt durchklingt. Dagegen würde
es als ungeschickt, ja geradezu als falsch empfunden werden, wenn
der Psychologe, ohne sich auf eine bestimmte, anderswo schon präzi-
sierte Tatsache zu beziehen, den Ausdruck »das moralische Gefühl«
gebrauchen wollte. Bedient sich die Alltagssprache dieses Ausdrucks
trotzdem, so ist offenbar nicht die Gesamtheit der ethischen Gefühle,
sondern faktisch nur ein bestimmtes, einzelnes Gefühl der Gruppe ge-
meint. Denn auch jene Emotionen, die in der Klasse der »ethischen«
oder »moralischen Gefühle« zusammengefaßt werden, sind gleich den
ästhetischen unter sich so verschieden, daß es schlechterdings nicht
angeht, da, wo von ihnen im ganzen gehandelt wird, das Wort
»Affekt« in der Einzahl anzuwenden. Die Befriedigung über eine gute
Tat, das Gefühl innerer Verpflichtung, das je nach den Umständen
lustvoll oder peinlich ist, die Sorge, den sittlich richtigen Weg zu ver-
fehlen, die Reue und die Gewissensbisse, dann wieder die selbstlose
Teilnahme an Freud und Leid eines andern — diese emotionalen
Zustände haben, wenn man von ihrer Beziehung zum ethischen Leben
abstrahiert, so wenig Gemeinsames, daß es kaum minder verkehrt
wäre, in ihnen allen nur Betätigungen des gleichen Affekts zu sehen,
als es unsinnig erscheint, die verschiedenen Arten des ästhetischen
Genusses für ein und dieselbe Gemütsbewegung zu erklären.

Es erübrigt also nur die andere Annahme, daß die vielerlei ästhe-
tischen Gefühle zwar nicht genau den nämlichen Affekt vorstellen,
aber trotz ihrer großen Zahl und unverkennbaren Verschiedenheit doch
eine besondere, natürliche Gruppe von Affekten bilden. Festzusetzen,
welche Verhältnisse von Gemütsbewegungen zueinander eine >natür-
 
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