Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

DOI Artikel:
Besprechungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0284

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
280 BESPRECHUNGEN.

lichkeit kommen sie dem Gesangsverse ebenfalls, ja auch der Instrumentalmusik zu,
nicht einmal der Massen Vortrag schließt sie aus, wie man bei jedem Chor- oder
Orchestervortrage hören kann. Auch im Tanze kann man verlangsamen und be-
schleunigen. Kurz, zu den Zeitformen jedes musischen Kunstwerkes kann der Vor-
trag seine Zutaten und Abzüge bringen. Es handelt sich da nur um mannigfache
Gradunterschiede: die grundsätzliche Zweiteilung »Sprechvers — Meiose ist Willkür
und wäre auch nicht so wichtig genommen worden, wenn man sie nicht gebraucht
hätte, um eine verlorene Position in der altgermanischen Verslehre zu decken.

Wir erblicken daher in dem Takte die primäre Bedingung aller gebundenen
Rede, auch der Sprechverse. Die zu Anfang gestellte Frage können wir nur so
beantworten: die sogenannten freien Rhythmen sind »Verse«, falls ihr Dichter ihnen
Taktgliederung zudachte. Ob er das getan hat, könnte nur die Beobachtung seines
eigenen Vortrages lehren. Das Setzen der Gedichte in abgebrochenen Zeilen
spricht im allgemeinen zu Gunsten der Vermutung. Aber z. B. bei Arno Holzens
freien Rhythmen klänge takthaltiger Vortrag oft gar wunderlich; man nehme eine
Zeile wie

Dann sind die Kuchen dahinter manchmal gelb, manchmal rot und manchmal

sogar blau:
das soll doch wohl unstilisiert, taktfrei gesprochen werden! Damit tritt es für die
Verslehre zur Prosa über: mit rein optischen Spracheigenschaften, dem Absetzen
der Zeilen, rechnet die Metrik nicht.

Unser Verfasser nimmt für alle diese freien Rhythmen den metrischen Takt an.
Er glaubt sogar, es gehöre zu ihrem Wesen, daß der Vortrag »mit überaus gewissen-
hafter Sorgfalt- auf die Taktgleichheit achte (S. 11). Aus der Empirie stammt dieser
Satz schwerlich; übrigens geht er den Vortragspraktiker an, nicht den Rhythmen-
forscher. Die Proben rhythmisieren in zweiteiligem Takte; sie verwenden vielfach
Taktfüllungen wie

IJ. **\; IJ-.M; \r J .H

sanftere hört es hörte

Meiner Ansicht nach greift man damit über in die Freiheiten der individuellen Dekla-
mation, die sich gar nicht so allgemeingültig nachzeichnen lassen; wenn wenigstens
ein Vortrag des Dichters selbst zu Grunde läge! Man täte besser, die einfachsten
Füllungstypen zu notieren, | J 0 | für die zweisilbigen Takte, | j *>*>\ und | J»n j* j|
für die dreisilbigen u. s. w.; die feinere Ziselierung fällt für den Metriker ins Nicht-
normierbare.

Daß B.-H. mit Pausen im Versinnern rechnet, dagegen ist grundsätzlich gewiß
nichts zu sagen. Aber in sehr vielen, ja den meisten Fällen würde ich gefühls-
mäßig ohne seine Pausen lesen und damit die vom Dichter gewollte Form zu treffen
glauben. Wenn Klopstock druckt:

Windeme sang, es ertönten
Bachs und Lollis Saiten zu dem Gesänge,
so entnehme ich daraus den Wink, daß nicht hinter sang, sondern hinter er-
tönten eine längere Pause gedacht ist. Der Verfasser sträubt sich gegen Pausen
und Versschlüsse inmitten von nah zusammengehörigen Satzteilen (wie hier nach
ertönten): und doch können vortreffliche lyrische Wirkungen davon ausgehen, die
Sprachmelodie hat die Brücke zu schlagen. Ein Übelstand ist, daß B.-H. die von
ihm angesetzten pausierten Hebungen bei der Zählung der Versikten übergeht.

Klopstocks, Goethes, Heines freie Rhythmen waren in früheren Arbeiten schon
so gut untersucht, daß unserem Verfasser keine sonderlich reiche Nachlese blieb.
 
Annotationen