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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Groos, Karl: Zum Problem der ästhetischen Erziehung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0303

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ZUM PROBLEM DER ÄSTHETISCHEN ERZIEHUNG. 2QQ

zu. Versteht man unter Gellerts »Narren« nicht den dummen Schwätzer,
sondern den naiv Genießenden, der dem Kunstwerk als »reiner Tor«
gegenübersteht, so ist dem Künstler auch an »des Narren Lob« etwas
gelegen, nicht nur an dem Beifall des ästhetisch Gebildeten.

Sobald man den Versuch macht, den Gegensatz des Naiven und
des Kenners psychologisch zu analysieren, stößt man auf eine beträcht-
liche Anzahl weiterer Antithesen; denn beide unterscheiden sich wegen
der Mannigfaltigkeit ästhetischer Möglichkeiten nicht in einem Punkt,
sondern in vielen Punkten. Da ich hier nicht die Absicht habe, diese
Analyse allseitig durchzuführen, werde ich mich in der Hauptsache
auf die bildende Kunst beschränken und dabei vier solcher Antithesen
herausgreifen, unter denen die letzte wohl als die wichtigste angesehen
werden muß.

1. Es hängt mit den biologischen Zwecken des Sehens zusammen,
daß wir bei der optischen Wahrnehmung ein ganz besonderes Ge-
wicht auf die räumliche Gestalt der Dinge legen. Vor allem das
für die Erhaltung unseres Daseins so unentbehrliche Wiedererkennen
der Gegenstände scheint seinen Stützpunkt mehr an der sichtbaren
Form als an den Farben- und Helligkeitsunterschieden zu findenx).
Schon das kleine Kind bringt der »Gestalte ein überraschendes Inter-
esse entgegen; sonst wäre es nicht so frühzeitig im stände, die Be-
deutung von einfachen Umrißzeichnungen ohne Mühe zu erraten. Es
ist geradezu auffallend, wie gleichgültig die Kleinen in Hinsicht auf
die Buntheit der Bilder in ihren Büchern zu sein pflegen. Konrad
Lange hat in seiner bekannten Untersuchung über die künstlerische
Erziehung der deutschen Jugend ausführlich hierüber gesprochen. —
Und was von dem einzelnen Kinde gilt, scheint auch für die Anfänge
der bildenden Kunst zuzutreffen. Sofern wir auf Grund übereinstim-
mender prähistorischer und ethnologischer Forschungsergebnisse Ver-
mutungen über diese Anfänge wagen dürfen, hat die bildende Kunst
überraschend früh mit der Darstellung der Natur durch die scharf
beobachteten Umrisse der Körper begonnen. — Dem entspricht es
nun, daß auch das Genießen des Naiven vorherrschend auf die
Raumform der Dinge eingestellt ist. Wird doch die natürliche Dis-
position, die ihn dazu veranlaßt, noch außerdem durch seine ästhe-
tische Erfahrung wesentlich unterstützt; denn von Jugend auf ist ihm

') Eine exaktere Formulierung müßte, da im Grund auch die räumliche Form
der Körper durch Farben- und Helligkeitsunterschiede bestimmt wird, etwa so
lauten: wir legen ein besonderes Gewicht auf solche Farben- und Helligkeitsunter-
schiede, die uns dazu dienen, die Dinge oder ihre Teile von ihrer räumlichen Um-
gebung abzugrenzen und so (wohl mit Hilfe von Bewegungsreproduktionen) ihre
»Gestalt« oder ihren »Umriß« zu konstruieren.
 
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