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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Groos, Karl: Zum Problem der ästhetischen Erziehung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0314

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310 KARL GROOS.

Es ist nicht meine Absicht, dies hier für die vier Gegensätze ge-
nauer auszuführen, die ich herausgegriffen habe. Ich muß mich viel-
mehr auf ganz kurze Andeutungen beschränken, möchte aber hervor-
heben, daß es sich dabei um Erkenntnisse handelt, die gegenüber
gewissen Einseitigkeiten der neueren Kunstkritik erst allmählich wieder
zu wirken beginnen. — Es ist erstens ein Fehler, die impressionistische
Auflösung der Welt in Farbenkomplexe als das einzig berechtigte
Streben der Malerei anzusehen. Denn das Herausheben oder besser
Erzeugen der gestaltgebenden Linien bleibt trotzdem ein köstliches
und unverlierbares Vorrecht der bildenden Kunst, gerade wie in der
Musik die moderne Freude an dem Farbenglanz der Instrumentierung
das Bedürfnis nach einer Herrschaft der Melodie wohl ergänzen, aber
nicht ersetzen kann. — Es wäre zweitens verkehrt, wenn man die
Freude an der bewußten Selbsttäuschung, als ob das Dargestellte
Wirklichkeit wäre, einfach verwerfen wollte. Es gibt Grade dieser
Illusionsfähigkeit. Solange sie in ihrer ganzen naiven Stärke hervor-
tritt, läßt sie sich freilich schwer aus der Herrschaft verdrängen, so daß
die von uns geforderte Anpassungsfähigkeit für alle möglichen Einstel-
lungen nicht gut erworben werden kann. Aber derjenige Kenner, den
die Kritik um allen »Glauben« gebracht hat, kann auch nicht das
Ideal der ästhetischen Bildung verkörpern. Wenn irgendwo, so gilt es
in der Kunst, etwas von der Kindheit ins reife Alter hinüberzuretten. —
Es wäre ein dritter Irrtum, wenn man das Vergnügen an der schönen
Einzelform, das uns doch schließlich nur die Kunst ganz rein und
ungestört verschaffen kann, als ästhetisch minderwertig völlig zu unter-
drücken suchte. Wer über die Verzückten spottet, von denen die
lieblichen Köpfe Peruginos angeschwärmt werden, der hat gewiß recht,
sofern die Leute nur diese naive Einstellung kennen. Aber er sollte
nicht übersehen, welch köstliches Geschenk der Maler den Jahrhun-
derten bot, als er jene dunklen Augen mit der eigentümlichen Schwel-
lung des Lides fand und malte, deren sanfter Blick ein empfängliches
Herz bewegen muß.

Was endlich die Geringschätzung des naiven Miterlebens der dar-
gestellten »Begebenheit« betrifft, so stoßen wir da auf ein schon vor-
hin erwähntes Hauptproblem der modernen Kunstkritik, die so vielfach
den falschen Kennerstandpunkt gänzlicher Verwerfung eingenommen
hat. Aus einer berechtigten Reaktion gegen das Unverständnis vor-
ausgegangener Zeiten ist eine ungerechte Einseitigkeit geworden. Der
Umschwung beginnt schon einzutreten. Man erkennt, daß in die Ver-
werfung der schwächlichen Anekdotenmalerei von künstlerisch wenig
befähigten Männern, deren Erzeugnisse uns Jahrzehnte lang über-
schwemmt haben, nicht auch die kindliche Lust am Fabulieren hinein-


 
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