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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Stieglitz, Olga: Die sprachlichen Hilfsmittel für Verständnis und Wiedergabe von Tonwerken, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0372

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368 OLGA STIEGLITZ.

Gustav Engel hat sich einmal der Mühe unterzogen l), die Instru-
mentaleinleitung zum zweiten Akt des »Fidelio« genau zu analysieren,
um festzustellen, ob die von Beethoven bestimmten Vortragszeichen
willkürlich hinzugefügt seien oder sich aus »Tonhöhen und Taktver-
hältnissen« notwendig ergeben. Wenn er zu dem Resultat gelangt,
daß nicht das Geringste anders hätte sein dürfen, die Angaben mithin
für jeden »richtig empfindenden Musiker« überflüssig seien, so schießt
er meiner Ansicht nach weit über das Ziel hinaus. Abgesehen davon,
daß Beweise für ein absolutes »Richtigempfinden« in der Kunst schwer
zu erbringen sind, vergißt er, daß Verständnis und Schätzung eines
Kunstwerkes nicht zu allen Zeiten die gleichen sind. Dem heutigen
Musiker können Beethovens Vortragszeichen überflüssig erscheinen,
jedoch nicht aus dem Grunde, weil diese Musik absolut nicht anders
aufgefaßt werden könnte2), sondern weil eine auf des Urhebers An-
gaben fußende Vortragsart üblich geworden ist. Die Zeitgenossen
des großen Meisters standen dem anders gegenüber; ihnen erschien
neu, ja vielfach fremdartig, was wir als selbstverständlich empfinden.
Beethovens unmittelbare Epigonen hätten sich vielleicht manche Worte
und Zeichen sparen können, ohne sich der Gefahr auszusetzen, gröb-
lich mißverstanden zu werden. Die ersten aber, die es wagten, mit
den klassischen Überlieferungen zu brechen — ein Schumann, Berlioz,
Liszt, Wagner —, durften nicht auf die Möglichkeit verzichten, durch
vermehrte und teilweise neue Bezeichnungen das Eindringen in ihre
Werke zu erleichtern.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß, wenn eine innere Vor-
tragsgesetzmäßigkeit besteht, sie mindestens um so besser erkannt
wird, je mehr eine Komposition hergebrachten Formen angepaßt ist
und dem vorbildlich gewordenen Stil dieser oder jener Kunstepoche
entspricht. Jeder Künstler, der dagegen von den durch seine Vor-
gänger geschaffenen Schönheitsnormen abweicht, muß darauf gefaßt
sein, von der Mehrzahl seiner Mitlebenden nicht sogleich verstanden
zu werden. Setzt nun der heutige Maler die der Natur nachgeahmten
Dinge anders auf die Leinewand, als man gewohnt ist, sie dargestellt
zu sehen, so kann er zwar gewärtig sein, verlacht und verhöhnt zu
werden, aber sein Werk bleibt beweistrotzig stehen und redet deutlich
seine Sprache. Er darf sich daher der Hoffnung hingeben, daß die
Kommenden lernen werden, mit seinen Augen zu sehen. Der moderne
Musiker riskiert aber, daß sein »Wie ich es höre« oder »Wie ich es

') Ästhetik der Tonkunst (1884) S. 123—130.

*) Die moderne Dirigentenschule beweist das Gegenteil, indem sie die Werke
der Klassiker in wesentlich anderer Auffassung zu Gehör bringt als z. B. Mendels-
sohn und seine Nachfolger.
 
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