406 OLGA STIEGLITZ.
der Künstler weiß, mit welchen Empfindungen er den Tönen und
Tonfarben entgegen zu kommen hat. Auch alle Wort- oder Zeichen-
vorschriften des Komponisten werden jetzt von einem durch ihn selbst
gegebenen Gesichtspunkt aus aufgefaßt und erhalten somit ein be-
stimmteres Gepräge.
Wohl können aber Bedenken entstehen, ob damit nicht die künst-
lerische Persönlichkeit des Vortragenden eingeengt und seiner Repro-
duktion der Stempel der Unfreiheit aufgedrückt werde. Will doch
das musikalische Publikum, wenn es einem Tonstücke zuhört, nicht
nur den Geist seines Erfinders, sondern auch den seines Interpreten
spüren. Mit Recht wird darum jede nur halbwegs korrekte Ausfüh-
rung, in der sich persönliches Leben zu erkennen gibt, ungleich höher
bewertet als die minutiös genaue Wiedergabe der Musikwalze. Ge-
rade weil Musik ein Band seelischen Verständnisses zwischen den
Menschen bildet, läßt das erhabenste Tonwerk, mechanisch ausge-
führt, kalt. Auch der Phonograph wird — so vollkommen er sich
in Zukunft entwickeln mag — hiervon keine Ausnahme bilden. Die
durch ihn vermittelte Künstlerleistung wird immer nur wie ein Stück
Vergangenheit berühren, dem zwar kunsthistorisches Interesse zu-
kommt, tiefere seelische Wirkung aber versagt bleibt. Die enge Ver-
bindung der Tonkunst mit der menschlichen Psyche bringt es mit
sich, daß wir in jedem Augenblick musikalischen Genusses den
Pulsschlag persönlichen Lebens empfinden, ja eigentlich die Illusion
haben wollen, Zeuge eines spontanen seelischen Ergusses zu sein1).
Der Vortragende kann diesen Eindruck nur erwecken, sofern das
reproduzierte Werk ihm während der Darstellung zum eigenen Erleb-
nis wird, und das geschieht, wenn er die zu Grunde liegenden Ge-
mütstatsachen sukzessive mit den entsprechenden Formen vorzustellen
vermag. Ein klares Verständnis dieses Zusammenhanges wird dem
Interpreten selten unmittelbar zu teil. In der Regel erschließt es sich
auf indirektem Wege, entsprechend der Art und Weise, wie die Ver-
bindung von Stoff und Form zu stände kam. Empfängt auch der
schaffende Genius schauend oder vielleicht, um mit Nietzsche zu
sprechen, im dionysischen Rausche die Idee seiner Werke, so bedarf
er zu ihrer Gestaltung in hohem Grade der Mitwirkung des logisch
entwickelnden und kühl prüfenden Verstandes.
Wie bei der Entstehung jeder Kunstschöpfung, so spielt auch bei
der musikalischen das intellektuelle Element eine bedeutende Rolle,
!) »Von dem Gedanken, daß es sich um eine ausdruckgebende Persönlichkeit
handele, kann sich der Kunstgenießende gar nicht losmachen« sagt Fr. v. Hausegger
in Bezug auf den reproduzierenden Künstler. »Die Musik als Ausdruck« S. 204.
der Künstler weiß, mit welchen Empfindungen er den Tönen und
Tonfarben entgegen zu kommen hat. Auch alle Wort- oder Zeichen-
vorschriften des Komponisten werden jetzt von einem durch ihn selbst
gegebenen Gesichtspunkt aus aufgefaßt und erhalten somit ein be-
stimmteres Gepräge.
Wohl können aber Bedenken entstehen, ob damit nicht die künst-
lerische Persönlichkeit des Vortragenden eingeengt und seiner Repro-
duktion der Stempel der Unfreiheit aufgedrückt werde. Will doch
das musikalische Publikum, wenn es einem Tonstücke zuhört, nicht
nur den Geist seines Erfinders, sondern auch den seines Interpreten
spüren. Mit Recht wird darum jede nur halbwegs korrekte Ausfüh-
rung, in der sich persönliches Leben zu erkennen gibt, ungleich höher
bewertet als die minutiös genaue Wiedergabe der Musikwalze. Ge-
rade weil Musik ein Band seelischen Verständnisses zwischen den
Menschen bildet, läßt das erhabenste Tonwerk, mechanisch ausge-
führt, kalt. Auch der Phonograph wird — so vollkommen er sich
in Zukunft entwickeln mag — hiervon keine Ausnahme bilden. Die
durch ihn vermittelte Künstlerleistung wird immer nur wie ein Stück
Vergangenheit berühren, dem zwar kunsthistorisches Interesse zu-
kommt, tiefere seelische Wirkung aber versagt bleibt. Die enge Ver-
bindung der Tonkunst mit der menschlichen Psyche bringt es mit
sich, daß wir in jedem Augenblick musikalischen Genusses den
Pulsschlag persönlichen Lebens empfinden, ja eigentlich die Illusion
haben wollen, Zeuge eines spontanen seelischen Ergusses zu sein1).
Der Vortragende kann diesen Eindruck nur erwecken, sofern das
reproduzierte Werk ihm während der Darstellung zum eigenen Erleb-
nis wird, und das geschieht, wenn er die zu Grunde liegenden Ge-
mütstatsachen sukzessive mit den entsprechenden Formen vorzustellen
vermag. Ein klares Verständnis dieses Zusammenhanges wird dem
Interpreten selten unmittelbar zu teil. In der Regel erschließt es sich
auf indirektem Wege, entsprechend der Art und Weise, wie die Ver-
bindung von Stoff und Form zu stände kam. Empfängt auch der
schaffende Genius schauend oder vielleicht, um mit Nietzsche zu
sprechen, im dionysischen Rausche die Idee seiner Werke, so bedarf
er zu ihrer Gestaltung in hohem Grade der Mitwirkung des logisch
entwickelnden und kühl prüfenden Verstandes.
Wie bei der Entstehung jeder Kunstschöpfung, so spielt auch bei
der musikalischen das intellektuelle Element eine bedeutende Rolle,
!) »Von dem Gedanken, daß es sich um eine ausdruckgebende Persönlichkeit
handele, kann sich der Kunstgenießende gar nicht losmachen« sagt Fr. v. Hausegger
in Bezug auf den reproduzierenden Künstler. »Die Musik als Ausdruck« S. 204.