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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0456

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452 BESPRECHUNGEN.

etwas Nebensächliches zum bestimmenden Einteilungsgrund erhoben. Im allge-
meinen aber trifft die Anordnung wohl die wesentlichen Punkte, und ebenso ge-
lungen ist im großen Ganzen die Grenzlegung zwischen dem Schematischen und
Erscheinungs- oder Formgemäßen. (Bedenken habe ich z. B. gegenüber Taf. 16,
Nr. 31.)

Auf die Darstellung des Tiers und der Pflanze brauchen wir nicht einzugehen.
Der Verfasser hat in jenem Abschnitt die Erfahrungsmöglichkeiten des Kindes
weniger genau untersucht als in diesem, und doch kommt viel darauf an, wie oft
und mit welchem Gefühlsanteil das einzelne Kind bestimmte Tiere beobachtet haben
mag; gegenüber den Menschen sind Erfahrungsumfang und -stärke ja durchschnitt-
lich die gleichen. Den Bemerkungen über die Kunst der Naturvölker und über
Kunstrichtungen der Gegenwart vermag ich nicht immer beizustimmen, so sehr es
mich freut, sie überhaupt in einem Werk zu finden, das hauptsächlich pädagogischen
Zwecken dient.

Bei der Darstellung eines Stuhls und eines Straßenbahnwagens sind wiederum
drei Hauptstufen der zeichnerischen Entwickelung zu beobachten: das Schema, die
Flächendarstellung oder der Aufriß, und die perspektivische Raumdarstellung. Die
Aufgabe, ein Schneeballgefecht zu verdeutlichen, wird in allen Graden der Voll-
kommenheit behandelt. Besonders lehrreich (übrigens auch sonst in primitiver
Malerei vorhanden) ist das Verfahren, gleichsam durch ein Aneinanderreihen der
Figuren zu erzählen, und ferner die »landkartenartige Darstellung mit Umklappung
der senkrecht stehenden Gegenstände«. Ob aber der Vorwurf recht glücklich ge-
wählt war? Er fordert nicht gebieterisch genug die Verwendung der Tiefendimension
und trägt nicht so viel zur Aufklärung bei wie zu wünschen wäre. Wenn der Leser
das Buch zur Hand nehmen und die erste Zeichnung auf Tafel 94 ansehen möchte,
so würde er sofort bemerken, daß diese Figur als Bild einer der zwei kämpfenden
Parteien aufgefaßt werden kann: die Knaben stehen alle nebeneinander und werfen
nach dem unsichtbaren Feind. Er würde vielleicht einige der Überschneidungen in
Nr. 5 auf Tafel 95 als gewollte Perspektive ansprechen, würde bezweifeln, daß Nr. 3
auf Tafel 98 »ohne deutlich erkennbaren Versuch der Raumdarstellung« entworfen
worden ist — kurz, unser Freund hätte vielerlei Fragen an den Verfasser zu richten.
Ich jedoch kann ihm nicht auf so lange Zeit das Wort verstatten, sondern muß
weiter gehen.

An der Verzierungskunst der Kinder haben den größten Anteil »die Nach-
ahmung des traditionellen Ornaments und das angeborene Gefühl für Rhythmus und
Symmetrie«. Bei Mädchen ist der Sinn für geordnete Gliederung stärker (und auch
früher entwickelt) als bei Knaben, bei beiden tritt der geometrische Stil weit hinter
dem Stil der Pflanzenranken und Arabesken zurück. Während das ornamentale
Gefühl sich im Mädchen schnell und reich entfaltet, ist die malerische Begabung
sonst — wir hörten schon davon — fast ein Vorrecht des männlichen Geschlechts.
Kerschensteiner erwähnt ausdrücklich, »daß weder zu den räumlichen Darstellungen
der Trambahn noch der Kirche eins der etwa 4200 Mädchen, die an den syste-
matischen Versuchen teilnahmen, ein bemerkenswertes Beispiel liefern konnte«.
Ausnahmsweise kommen freilich auch beachtenswerte Leistungen von Mädchen vor
(vgl. Tafel 118). Der Unterschied der Begabungen ist überhaupt erstaunlich. »Unter
den 58000 Kindern waren etwa 40, welche die Darstellung des menschlichen Körpers
nahezu vollständig beherrschten, dagegen nur 6, denen selbst das charakteristische
Porträt keine Schwierigkeiten mehr machte.« Und zwei dreizehnjährige Knaben
treten uns entgegen, denen die Technik des Zeichnens so geläufig ist, als wäre in
ihnen eine Rückerinnerung im Sinne Piatos lebendig; die Raumdarstellung gelingt
 
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