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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0460

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456 BESPRECHUNGEN.

meisten im Gegenteil finden werden, daß es sich der Mühe nicht lohnt. Es scheint
Moos eben, trotz seiner Versicherung, mehr darauf angekommen zu sein, die »Irr-
tümer« aufzudecken, als eine Vorstellung vom Werte dieser Schriften zu geben.

Auch die Methode und der Stil können nicht befriedigen. Der Verfasser nimmt
jede einzelne Schrift Wagners durch, erzählt ihren Inhalt in abgekürzter Form und
knüpft daran kritische Bemerkungen. Längere Zitate aus den Schriften sind einge-
streut. An sich wäre dies Verfahren nicht zu tadeln. Aber er bemüht sich nicht
darum, Wagners Gedankengang auch im Aufbau des Originals wiederzugeben, son-
dern bringt ihn in einer anderen Anordnung, sprunghaft, weil es ihm um eine
»Neugruppierung und kritische Sichtung des umfassenden Materials« zu tun war.
Wieviel nützlicher und richtiger wäre es gewesen, wenn er von jeder Schrift, wenig-
stens den größeren, ein Schema mit der Übersicht des Inhaltes geben würde und dann
diesen Inhalt genau im Aufbau des Originals vor uns erstehen ließe. Aber das
Schlimmste ist, daß seine Darstellung der Gedanken Wagners so trocken und dürr
ist, daß ich bezweifle, ob ein Leser, dem Wagners glühende, begeisterte Schreib-
weise unbekannt ist, durch diese langweilige Aufzählung überhaupt Interesse für
Wagners Gedanken gewinnen wird. Gewiß kann in einem derartigen Werke nicht
die dichterische Kraft der Wagnerschen Prosa wiederholt werden, aber wie anregend
und fesselnd trotzdem eine Übersetzung derselben in kühleren Stil sein kann, hat
Lichtenberg auf meisterhafte Weise bewiesen.

Ein anderer schwerwiegender Fehler scheint mir zu sein, daß Moos den Ästhe-
tiker, besser den Theoretiker Wagner für sich betrachtet; denn der Ästhetiker
Wagner ist nicht von seinen Kunstwerken zu trennen: nicht in seinen theoretischen
Schriften allein steckt Wagners Ästhetik, sondern diese finden ihre notwendige Er-
gänzung in seinen Dramen.

Es wird eben stets ein schiefes Bild geben, wenn man Wagner allein von einer
Seite betrachtet. Die Vielseitigkeit dieser Persönlichkeit reizt immer wieder dazu,
aber ihre einzigartige Geschlossenheit und Einheit wird einer einseitigen Betrachtung
immer wieder spotten. Wagner ist eben nicht dies und jenes, Dichter, Musiker,
Philosoph, sondern er ist — man kann es nicht besser sagen, als Wieland von
Goethe sagte: »Der größte unter den menschlichen Menschen«. Was der ganzen
Menschheit zugeteilt ist, hat er in seinem Innern genossen, sein eigen Selbst zu
ihrem Selbst erweitert. Wagner ist wie Leonardo da Vinci, wie Goethe, ein ganzer
Mensch.

Berlin. J. Vianna da Motta.
 
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